Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps


Dezember 2020

 

   
Buchkultur. Das internationale Buchmagazin
Wien: 1989-heute.

Von deutschsprachigen Erzähldebüts über sprachliche Rückverzauberungen der Welt bis hin zu essayistischen Gedankenspielen für übermorgen – auch dieses Jahr gestalteten sich die Beiträge der Buchkultur, eines der wichtigsten Literaturmagazine im deutschsprachigen Raum, ebenso vielseitig wie einladend. Nun begrüßt das gut 30-jährige internationale Blatt mit einer neuen Aufmachung: Unter der neuen Geschäftsführung von Max Freudenschuß präsentiert sich das frische, ansprechende Layout sowohl im Online-Bereich als auch im gedruckten Heft. Dieses erscheint sechsmal im Jahr und eröffnet – gemeinsam mit mehreren Sonderheften – unter der neuen Chefredaktion von Jorghi Poll, der gemeinsam mit der neuen Chefin vom Dienst Katia Schwingshandl die inhaltliche Ausrichtung der Buchkultur verantwortet, ein facettenreiches Spektrum an literarischen Themen.

In Essay-Beiträgen, Schriftsteller*innen-Porträts, Interviews und Kolumnen spannen das Redaktionsteam und seine Autor*innen einen Bogen, der in diesem außergewöhnlichen Jahr von historischen Wirklichkeiten über künstliche Intelligenzen bis hin zu globalen Krisen in der Literatur reichte. Und auch der neue Roman des iranischen Schriftstellers Shahriar Mandanipur – der Autor der ersten Fernkurs-Lektüre in unserem aktuellen Fernkurs >>> ausLESEN – wurde ausführlich besprochen (Heft 2/2020, S. 24-25). Darüber hinaus bieten die zahlreichen prägnanten Rezensionen den Leser*innen eine umfassende Unterstützung bei der Lektüreauswahl, informieren über aktuelle Trends am Buchmarkt und unterziehen ältere bzw. bekannte Texte einer zeitgemäßen Relektüre. Und: Einmal im Jahr widmet sich die Buchkultur im kostenlosen Sonderheft spezial der Vielfalt der österreichischen Buchwelt. Dieses Jahr besprach das 32-seitige Themenheft, das jeden Herbst in über 100 österreichischen Buchhandlungen aufliegt und auf der Buchkultur-Homepage als >>> PDF zur Verfügung steht, die Neuerscheinungen von Autor*innen wie Monika Helfer, Stefan Slupetzky oder Leander Fischer.

Erhältlich ist die Buchkultur im Abo ebenso wie als Einzelexemplar im Buchhandel. Und für alle, die lieber digital unterwegs sind, kann das Magazin mittlerweile auch in der schön und übersichtlich gestalteten Buchkultur-App gelesen werden. (Dort können praktischer Weise auch die letzten Ausgaben dieses Jahres noch nachträglich gekauft werden.) So oder so fühlt man sich gut aufgehoben in der Buchkultur. Äußerst charmant zeigt sich das neue Team auch in der originellen Vorstellung seiner Mitarbeiter*innen: Am Ende der ersten Ausgabe im neuen Gewand (Heft 5/2020) „trifft“ man sich als Leser*in – wie könnte es in Wien anders sein – mit der Buchkultur-Redaktion am Kaffeetisch.

Diese sympathische Simulation einer persönlichen Begegnung erhält in diesem Jahr natürlich eine besondere Note. 2020 hat nicht nur die Buchbranche vor ganz neue Herausforderungen gestellt: Veranstaltungen wurden abgesagt oder in den virtuellen Raum verschoben; Bücher erschienen später als geplant oder wurden überhaupt auf das nächste Jahr verlegt; Buchhandlungen mussten über weite Strecken ihren Verkauf online und per Postversand abwickeln; und auch die Arbeit „hinter den Kulissen“ der Literaturszene musste häufig per Distanz erledigt werden. Im Angesicht dieser Entwicklungen zeigen sich die Buchkultur-Herausgeber Michael Schnepf und Nils Jensen in ihrem Editorial vom 20. August 2020 dennoch voller Zuversicht:

Wir möchten uns, bei aller angebrachten Demut, nicht verstecken, möchten das, was auch in Zukunft Bestandteil des Lebens vieler Menschen sein wird, nämlich das Lesen von Büchern, weiterhin in den Mittelpunkt […] stellen.

Dem schließen wir uns gerne an!

 

Claudia Sackl

 

 



www.buchkultur.net

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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November 2020

 

   

Francois de Smet / Thierry Bouüaert: Die Menschenrechte
Berlin: Jacoby & Stuart 2020.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte feierte 2018 ihr 70-jähriges Jubiläum und die Zeit zeigt, dass es tatsächlich notwendig ist, sich ihre Inhalte immer wieder ins Gedächtnis zu rufen: Rassismus, Sexismus, Flucht, Terror und Gewalt sind nur einige wenige der wichtigen Themen, die in dem 1948 von allen damaligen Mitgliedern der Vereinten Nationen unterzeichneten Dokument angesprochen werden. Aber auch Zensur, wie sie in Shahriar Mandanipurs Roman Eine iranische Liebesgeschichte zensieren – der ersten Lektüre unseres aktuellen Fernkurses ausLESEN – thematisiert wird, wird in der rechtlich nicht bindenden Resolution behandelt: Artikel 19 der Erklärung besagt, dass jeder Mensch das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung hat.

Die vorliegende Graphic Novel von François de Smet und Thierry Bouüaert erinnert auf unkonventionelle Art und Weise an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie lassen das Dokument selbst zu Wort kommen und erzählen seine Geschichte aus seiner eigener Sicht in der Ich-Perspektive.

Gemeinsam gehen Bild und Text der Graphic Novel nicht nur auf alle 30 Artikel der Erklärung ein, sondern auch der historische Kontext ihrer Entstehung wird thematisiert. Neben dem ausführlichen Vorwort schildern vor allem die ersten Seiten des Buches, welche Geschehnisse Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich machten, dass es eines gemeinsamen, schriftlich festgehaltenen Wertesystems bedurfte, um zu verhindern, dass es zu einer Wiederholung der Schrecken des Zweiten Weltkrieges kommen würde.

Eine weitere Besonderheit des Buches der beiden belgischen Verfasser ist, dass Einzelbiografien wichtiger Persönlichkeiten, die maßgeblich an der Verschriftlichung der Erklärung der Menschenrechte beteiligt waren, in den Comic eingeflochten werden. So werden beispielsweise die US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin Eleanor Roosevelt oder der französische Diplomat und Jurist René Cassin eingehend vorgestellt. Diese mehrfachen Erzählstränge, die unzensierten Bilder – die vor der unmittelbaren Darstellung vergangener wie aktueller Gewalttaten nicht zurückschrecken – und die besondere Erzählperspektive der Graphic Novel eröffnen einen ganz neuen Blick auf ein juristisches Dokument, das gemeinhin wahrscheinlich meist als zwar wichtiges, aber weitgehend statisches Objekt wahrgenommen wird:

Ich bin ein Mahnmal gegen das Vergessen.

Die Erklärung der Menschenrechte wird dabei als ein selbstbestimmter Ausdruck einer konkreten politischen Agenda erkennbar. Die strikte Struktur des Dokuments wird aufgebrochen und zu einem zusammenhängenden Plot zusammengeführt, der mithilfe von Referenznahmen zu aktuellen Ereignissen in unserer Welt verdeutlicht, dass es auch im 21. Jahrhundert noch viele Orte und Umstände gibt, wo Menschenrechte noch immer bzw. wieder nicht umgesetzt werden. Auch wenn sich die Reihe Comic-Bibliothek des Wissens, in der das Buch Die Menschenrechte erschienen ist, eigentlich primär an Jugendliche richtet, kann diesem Comic eine altersübergreifende Empfehlung nicht abgesprochen werden, behandelt es doch ein Thema, das alle Menschen gleichermaßen betrifft. Und dies tut es auf eine Weise, die alle seine Leserinnen und Leser – ungeachtet ihres Alters – ernst nimmt: Die Menschenrechte wirft komplexe moralische Fragen auf, stößt zum Nachdenken ebenso wie zu Diskussionen an und zeigt auf, dass wir alle ständig darauf Acht geben müssen, dass in unserer Gesellschaft die Rechte und Würde aller Menschen geachtet werden.

 

Alexandra Hofer und Claudia Sackl

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Oktober 2020

 

   

Katharina Raabe und Frank Wegner (Hg.): Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe
Berlin: Suhrkamp 2020.

Warum lesen wir und was macht das Lesen eigentlich zu einer besonderen Tätigkeit? Gibt es Formen des Erkennens und des Glücks, die unauflöslich an die Lektüre gebunden sind? Diese und viele weitere Fragen stellen sich die 24 Autorinnen und Autoren der vorliegenden Anthologie und beantworten sie auf ganz individuelle, oft auch unterhaltsame, immer aber auf äußerst spannende Weise. Warum Lesen ist ein Buch über das Lesen, das sich dem Thema teilweise auf literarischer Ebene, teilweise auf analytisch-sachlicher Ebene annähert: über literarische Erzählungen, Kindheitserinnerun-
gen, theoretische Überlegungen oder Streifzüge durch die eigene Lesebiografie. Da die Verfasser*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen – der eine geht die Fragen sehr philosophisch an, der andere zeichnet einen Comic, die nächste kommt aus der Soziologie –, sind ihre jeweiligen Zugangsweisen erfrischend breit gefächert.

Die titelgebende Frage beantworten die Geschichten, die das Lesen als Flucht vor dem Alltag, als Auflösung des Zeitgefühls, oder auch als Akt des Widerstandes, als verbindendes aber auch trennendes Element und als demokratische Meinungs- und Willensbildung begreifen, auf vielfältige Weise. Sie thematisieren das Vorlesen, die Autonomie (in) der Lektüre sowie die Verwunderung, wie es denn sein kann, dass das Lesen für manch andere eine nicht so große Bedeutung hat wie für eine*n selbst. Während Nicolas Mahler in Form eines Comics über das neugewonnene Ansehen von Comics im Literaturbetrieb schreibt, beschäftigen sich die Soziolog*innen Eva Illouz und Andreas Rechwitz mit den unterschiedlichen Formen und Funktionen des Lesens. Der Beitrag von Hans Joas (ebenfalls Soziologe) gibt wiederum eine sehr charmante Antwortmöglichkeit auf die (sicher vielen Leser*innen bekannte) Frage, ob es denn nun besser ist, viele Bücher einmal zu lesen, oder nur wenige Bücher und diese dafür öfter.

Darüber hinaus beinhaltet der Band auch einige sehr persönliche Geschichten. So denkt beispielsweise die ukrainisch-deutsche Autorin Katja Petrowskaja über ihre eigene Entwicklung als Leserin nach und erklärt, warum der hierzulande wenig bekannte Text Der blaue Vogel des belgischen Schriftstellers Maurice Maeterlinck ihr Lieblingsmärchen ist. Auch die Lesegewohnheiten ihres Vaters und die Fragen, wie sich die Auswahl der Lektüre auf sozialer Ebene auf eine Person auswirken und durchaus auch gefährlich werden kann (wie z. B. in der ehemaligen Sowjetunion), werden in ihrem Beitrag behandelt.

Der österreichische Autor Clemens Setz hingegen greift das Motiv des Lesers bzw. der Leserin als Sonderling anhand der Fernsehserie The Twilight Zone (1959-1965) auf: Der kauzige Bankangestellte Henry Bemis macht nichts lieber als lesen, auch wenn seine Frau ihn dafür hasst und sein Chef wenig begeistert darüber ist, dass er sogar in der Mittagspause ein Buch in die Hand nimmt. Als Henry sich eines Tages in der Mittagspause in einen Tresorraum einsperrt, um ungestört lesen zu können, muss er, als er wieder heraus kommt, feststellen, dass die ganze Welt durch einen Bombenangriff zerstört wurde. Er ist der einzige Überlebende und als er gerade beschließt, auch dieses Leben auszulöschen, sieht er in der Eingangshalle der „Public Library“ überall verstreute Bücher. Und tatsächlich – Dickens, Shelley, Keats – sie liegen alle da, unzerstört. Doch als er sich bückt, um ein Buch aufzuheben, fällt seine ihm seine Brille hinunter und sie zerbricht in tausend Stücke. An dieser Stelle überlegt Setz, ob Bemis durch diesen Verlust gerettet wurde. Hätte er wirklich alle Bücher gelesen, so hätte er

die gesamte Menschheit im Alleingang vertreten müssen und sich ausnahmslos in allen Werken widergefunden, in endlosen Variationen gespiegelt bis in die geringste Nebenfigur hinein.

Deswegen empfiehlt Setz letztlich – nicht ohne Augenzwinkern –, Bücher vielleicht nur zu lesen, solange man noch Menschen um sich hat, da diese die Fiktionen besänftigen können. Ansonsten

werden die Fiktionen monströs. Da wissen sie plötzlich zu viel über dich, über mich. Da ballen sie uns zu etwas zusammen, was nur noch Ausdehnung und keinen Inhalt mehr besitzt. Da werden sie Gott. Drum wirf, liebe Leserin, solltest du je in eine ähnlich verlockende Falle geraten, die Brille besser fort.

Immer wieder wird auch die Frage aufgeworfen, ob das Lesen nur ein Ersatz für das „wahre“ Leben ist, und ob sich nur Menschen, die selbst kein „richtiges“, eigenes oder intensives Leben haben, in Krimis oder Romane flüchten. Für den bekannten Soziologen Hartmut Rosa stellt Lesen jedoch ganz klar eine Erweiterung und Vertiefung des Lebens dar. Lesen ist Leben. Beim Lesen verändert sich das Selbstgefühl und das Selbstverhältnis, wir erleben – wie es Rosa formuliert – eine fortwährende Modulation [unserer] Weltbezeichnung. Dadurch entsteht eine narrative Resonanz, ein innerliches Berührtsein, auf das man mit einer Bewegung der Öffnung reagiert.

In seinem Beitrag erklärt Rosa auch, wie Spiegelneuronen in unserem Gehirn funktionieren, wenn wir während der Lektüre die Emotionen der Figuren spüren. Oft werden wir beim Lesen wütend oder traurig oder überglücklich, obwohl wir wissen, dass eigentlich alles (nur?) Fiktion ist. Laut Rosa ist eine gelesene Handlung eine bis in die neuronalen Grundlagen hinein miterlebte Handlung. Gleichzeitig müssen wir die Welt, von der wir lesen, zuerst innerlich erzeugen, weshalb Lesen keine passive Rezeption sondern immer auch ein Dialog ist, in dem es zu einem ständigen Austausch mit der Geschichte und den Protagonist*innen kommt.

So verstehe ich Resonanz: Aus meinem eigenen und dem Fremden entsteht etwas Drittes, Neues – auch wenn dieses Neue vielleicht nur marginal anders ist als das Alte.

Wenn man beim Lesen des Buches genau mitzählt, findet man definitiv mehr als 24 Gründe, um die Frage „Warum Lesen?“ zu beantworten. Die abwechslungsreichen Beiträge regen zum Nachdenken über die eigene Lesegeschichte und das eigene Leseverhalten an und werfen neue Fragen bezüglich aktueller Lesebedürfnisse auf.

Eine interessante und spannende Anthologie für alle, die gerne lesen!

 

Elisabeth Dalecky

 

An alle, die gerne lesen und ihre persönliche Lesekompetenz erweitern und reflektieren möchten, richtet sich unser >>> Fernkurs für Literatur, der Mitte Oktober in eine neue Runde startet.

Unter dem Titel ausLESEN setzen wir uns von Oktober 2020 bis Juni 2021 mit dem deutschsprachigen und internationalen Literaturbetrieb, mit Kritik und literarischer Wertung, den Grenzen zwischen Fakt und Fiktion sowie den intermedialen Aspekten von Literatur auseinander.

Die >>> Anmeldung ist noch bis 15. Oktober 2020 möglich.

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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September 2020

 

   

Susan Kreller: Elektrische Fische.
Hamburg: Carlsen 2020.

I shouldn’t be here –  

Die ersten Worte von „Lights of Home“ könnten auch für Emma gelten. Von der Hölle des Jetzt und den besten Tagen, die eigentlich schon zurückliegen, ist im Song der irischen Rockband U2 die Rede.
Susan Kreller stellt ihrem neuen Jugendroman ein Zitat dieses Songs voran und verweist damit auf die Pein der Entwurzelung, die zu einem Leitmotiv für Emmas Ich-Erzählung wird. Dennoch zitiert die 2015 für ihren Roman „Schneeriese“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Autorin eine Passage des Songs, die wortwörtlich Hoffnung aufleuchten lässt:

In your eyes I see it / The lights of home.

Aufgefächert ist damit das Spannungsfeld zwischen dem Verlust des Home – der Heimat – und einem ersten, möglichen, noch unsicheren Moment des Ankommens.
Dabei legt Susan Kreller sich zu unterschiedlichen literarischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen quer: Sie erzählt keinen jener Flüchtlingsgeschichten, die in ihrer unterschied-lichen Qualität vor den politischen Hintergründen in Syrien oder Afghanistan oder Somalia die Erfahrungen jener schildern, die einen lebensgefährlichen Weg nach Europa auf sich genommen haben. Sie erzählt aber auch nicht von jener Entleerung, mit der Gebiete im Osten Deutschlands zu kämpfen haben. Vielmehr ziehen Emma, deren Mutter und Geschwister in eine Gegend, die viele andere verlassen (haben):

Ihr habt da übrigens irgendwas falsch verstanden. Man zieht nicht in diese Gegend, niemand macht das. Wenn überhaupt, zieht man hier weg. (55)

Emma ist in Irland aufgewachsen und wird nun von ihrer Mutter in deren ursprüngliche Heimat, das (fiktive) Dorf Velgow in Mecklenburg-Vorpommern verpflanzt, sprich: in eines der ehemaligen Gebiete der DDR. Es ist weniger die Provinzialität, die für Emma zur Herausforderung wird, als vielmehr der Verlust kultureller, vor allem aber sprachlicher Zugehörigkeit.

Ich bin in einem Deutsch gelandet, in dem ich mich immer wieder verlaufe. (16)

Emma ist zweisprachig aufgewachsen; dennoch sind jene deutsche Sprache, die sie kennt, und jene, die in Velgow gesprochen wird, einander fremd. Emma stößt auf zahlreiche Worte, die sie nicht einzuordnen weiß; andererseits vermag sie keine adäquate Translation für Sprichwörter zu finden, die ihr nicht nur geläufig sind, sondern ihre Situation auch treffend beschreiben: It‘s going arseway. Dieserart ließe sich das neue Familienleben im Haus der Großeltern beschreiben, doch der plumpe Begriff arschwärts wird dem nicht annähernd gerecht. Emma erkennt, dass Sprache nicht nur das Werkzeug der Kommunikation, sondern identitätsstiftend ist:

Die englische Sprache bin ich.
Deutsch spreche ich nur.
Deutsch ist immer noch ein paar Meere von mir entfernt.
(17)

Noch sehr viel drastischer als Emma verweigert ihre jüngere Schwester Aoife die neue Identität: Sie verstummt.
Einzig Emmas älterer Bruder Dara scheint sich rasch einzuleben, findet Freund*innen, ist umschwärmt, präsentiert seiner Familie eine auch sprachlich heiter wirkende Oberfläche seiner selbst. Erst am Ende des Romans legt Emma offen, dass er derjenige war, der in Wahrheit immer der Traurigste von uns gewesen ist (179) und der später letztlich auch als einziger der drei Geschwister nach Irland zurück geht. In Aoifes Fall ist der Schmerz des Heimatverlustes offensichtlicher. Hey now, do you know my name? heißt es im paratextuellen Zitat aus „Lights of Home“ – und in Aoifes Fall zeigt bereits die Fremdheit des Namens die scheinbare Unmöglichkeit, zwei (sprachliche) Welten zueinander zu bringen:

Ich frage mich, wie die Leute in Velgwo Aoifes Namen aussprechen werden, wahrscheinlich genauso falsch wie der deutsche Großvater. „Du musst Eufe sein“, hat er am Flughafen gesagt, und sie hat ihn nur böse angeguckt und langsam den Kopf geschüttelt und „Iiiifa“ gesagt, wieder und wieder. (9)

Die Sorge um die verstummte Aoife hält Emma davon ab, Velgow rasch wieder zu verlassen. Doch, so ihr Plan, sobald Aoife wieder zu sich selbst gefunden hat (und wieder spricht), wird Emma zurück nach Irland gehen. Sie trifft dafür bereits heimlich Vorbereitungen und findet in Levin unerwartet einen Partner, der ihr bei diesen Vorbereitungen hilft. Dabei erschien ihr gerade Levin unter den neuen Schulkolleg*innen am verschrobendsten; doch eine unerwartete Begegnung am Meer legt den Grundstein dafür, dass Levin letztlich zu jenem light of home wird, das Emma auf ganz neue Art an die neue, fremde Heimat bindet. Vielleicht liegt das auch daran, dass Levin keiner ist, der viel redet, und Emma gerade dadurch weit weniger fremd erscheint als andere. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Levin weiß, was Verlust heißt – auch wenn er ihn auf ganz andere Weise erfahren hat, als Emma: „Verloren“ hat Levin seine Mutter; oder um es genauer zu formulieren: Verloren hat Levin eine Mutter, die den Normen und Vorstellungen ihrer selbst, der Familie und Gesellschaft entspricht. Durch eine psychische Krankheit ist sie zurück geworfen auf ein ebenso wirres wie verwirrtes Dasein, das mehr als durch alles andere durch Paranoia geprägt wird. Und doch scheint gerade Levins Mutter diejenige zu sein, die auf ihre schräge, hexenhafte Art Wahrheiten erkennt:


Heimat ist da, wo man verstanden wird. Und wo keiner vergiftet
wird.
(63)

So wie Emma durch Aoife ist Levin durch seine Mutter an diesen Ort gebunden; seine Mutter, die einst Meeresbiologin war und nun auf ein Aquarium als Mittelpunkt ihres Lebens zurück-geworfen ist – eines jener poetisch einprägsamen Bilder, mit deren Hilfe Susan Kreller auf Emmas neuen Leben blickt, und durch jene sprachlichen Genauigkeiten, sprachlichen Volten und sprachliche Zartheit verstärkt, die ihren literarischen Stil prägen.

Letztlich sind es Levins Mutter und deren Wunsch nach einer Wieder-Begegnung mit dem Meer, die nicht nur zum dramatischen Höhepunkt des Romans werden, sondern auch die Gleichzeitigkeit von Bewegung und Gegenbewegung bewirken: Emmas Versuch, Velgow zu verlassen führt durch die verqueren Umstände letztlich dazu, dass Emma bleibt. Und damit dem Refrain eines Songs von Flogging Molly, einer weiteren irischen Band (im Glossar vorgestellt als irisch-amerikanische Folk-Punk-Rock-Band) folgt:

Hurry back to me, my wild calling.

 

Heidi Lexe und Kathrin Wexberg

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Juli und August 2020

 

   

Bilderbuch, Roman, Kurzgeschichten: Die Lese-Tipps im Juli und August 2020 stammen wieder vom Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, unserem Kooperationspartner im >>> Fernkurs für Literatur. In unterschiedlichen Genres erzählen sie von emotionalen, intimen und amorösen Beziehungsstrukturen zwischen Menschen aus verschiedenen kulturellen, generationellen und sozialen Sphären:

 

Hélène Delforge / Quentin Gréban: Liebe.
Aus dem Französischen von Anna Taube.
München: arsEdition 2020.

Literaten und bildende Künstlerinnen widmen sich seit Jahrhunderten dem ewigen Thema der Liebe, beides wird in diesem französischen Bilderbuch für Erwachsene bravourös zusammengeführt. Abgesehen von zwei Doppelseiten werden in diesem Werk 30 Spielarten der Liebe mit einem kurzen poetischen Text und einer Schwarz-Weiß-Abbildung auf der linken sowie einer farbigen Illustration auf der rechten Seite thematisiert.
Die ansprechenden Bilder verweisen größtenteils auf historische Szenen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und lassen mitunter den Blick über den europäischen Raum hinaus nach Amerika, Asien oder zu den Inuit schweifen. Außerdem finden sich Bezüge zur Kunstgeschichte, so wird im Text auf Ingres Odaliske verwiesen, noch offensichtlicher sind die Referenzen im Bild, sei es eine Abbildung, die an Man Rays Oeuvre erinnert, sei es eine Szenerie in der Ästhetik Alfons Muchas. Die abwechslungsreichen Liebesgeschichten sind nur in Ausnahmefällen in der Geschichte verankert, meist sind sie - wie die Liebe - zeitlos. Dieses Buch ist ein wunderschön gestaltetes Bilderbuch über Verliebtheit, Verführung, Erotik, Liebe und deren Scheitern.

Sandra Brugger | bn

 


Katya Apekina: Je tiefer das Wasser. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit.
Berlin: Suhrkamp 2020.

Edie und Mae wachsen bei ihrer psychisch schwer kranken Mutter auf, die nicht wirklich in der Lage ist, sich ausreichend um ihre Töchter zu kümmern. Ihr Vater, der berühmte Schriftsteller Dennis Lomack, hat die Familie längst verlassen und keinen Kontakt zu seinen Kindern. Als die Mutter nach einem Selbstmordversuch in eine Klinik eingewiesen wird, müssen die beiden Teenager von einem Tag auf den anderen zu ihrem Vater nach New York übersiedeln.
Während die Ältere der beiden, Edie, ihrem Vater nicht verzeihen kann, dass er die Familie einst im Stich gelassen hat, versucht die jüngere Mae alles, um die Liebe und Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu ziehen. Edie reißt aus, flüchtet in ihre alte Heimat und versucht, ihre Mutter zu retten. Mae hingegen verliert sich in ihrer obsessiven Liebe zu ihrem Vater, in ihrem Wunsch nach seiner Anerkennung, und lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Beide Mädchen steuern einer Katastrophe entgegen.
Ein dramatisches und tiefgründiges Buch, das schonungslos eine unglückliche Familiengeschichte in all ihren Facetten ausleuchtet und aufzeigt, wie fatale Beziehungsstrukturen Menschen zerbrechen lassen. Die Autorin wechselt gekonnt die Perspektiven und lässt nicht nur abwechselnd ihre beiden Protagonistinnen, sondern auch viele Nebenfiguren zu Wort kommen und ihre Sicht der Geschehnisse schildern. In wechselnden Zeitachsen werden den Leser*innen die Hintergründe nähergebracht und verdeutlicht.
Ein berührendes und intensives Buch, geschrieben in einer ausdrucksstarken und tabulosen Sprache.

Michaela Grames | bn

 

Ottessa Moshfegh: Heimweh nach einer anderen Welt. Storys.
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.
München: Liebeskind 2020.

Heimweh nach einer anderen Welt - das klingt wehmütig und romantisch. Doch diese Adjektive treffen den Sound der Kurzgeschichten Ottessa Moshfeghs ganz und gar nicht. Viele der Frauen und Männer, von denen hier erzählt wird, sind von Drogen- und Alkoholkonsum gezeichnet, ohne Chance aus ihren bedrückenden Verhältnissen herauszukommen. Um echte Beziehungen aufzubauen, mangelt es ihnen sowohl an Selbstbewusstsein als auch an Empathie. Hilflos, aber auch abstoßend und vulgär versuchen sie, ihre Bedürfnisse nach Anerkennung, Freundschaft und Sex durchzusetzen. Ein Mann in den mittleren Jahren hat sich beispielsweise in einer Videospielhalle in die Frau an der Kasse verliebt. Sie würdigt ihn zwar keines Blickes, doch seine Fantasien werden immer konkreter. Schließlich schickt er ihr eine anonyme SMS-Nachricht und schlägt ein Treffen vor. Er schreibt: Wenn ich Ihnen gefalle, klatschen sie in die Hände. Wenn nicht, pfeifen Sie. Die Antwort fällt nicht zu seinen Gunsten aus. Mit frustrierenden Situationen hat auch ein junger Mann zu kämpfen, dessen Traum es ist, in Hollywood reich und berühmt zu werden. Ein wenig hoffnungsvoller gestaltet sich das Schicksal einer attraktiven jungen Frau mit einer (nicht sichtbaren) Missbildung, die in einer chinesischen Familie Geborgenheit findet.
Die Autorin richtet ihren Blick auf die Schattenseiten des American Way of Life und entlarvt das amerikanische Credo "Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst" als Illusion. Wenn die Gesellschaft ein Scheitern als persönliches Versagen ansieht, ist der Sturz der Betroffenen in Resignation und Sucht keine Seltenheit.
Ausgezeichnet geschrieben und nicht ohne Verständnis für die "Erniedrigten und Beleidigten" animieren die Kurzgeschichten, vorschnelle Urteile zu hinterfragen und darüber nachzudenken, was zu einer humaneren Gesellschaft beitragen könnte.

Ingrid Kainzner | bn

 



www.biblio.at

 


 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Juni 2020

 

   

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Wien: Zsolnay 2020.

Der zweite Roman der jungen österreichischen Autorin zeigt, dass das Leben oft anders spielt, als man denkt und wie sich die Voraussetzungen für eine geradlinige Biografie ändern können. In Ich an meiner Seite erzählt die Bachmannpreisträgerin von 2019 von einer Figur, die aus den Bahnen eines geregelten und regelkonformen Lebens entgleist und für die sich das Zurückfinden in eine selbstbestimmte, eigene Spur schwieriger gestaltet als antizipiert.

Arthur Galleij ist von klein auf ein stiller, intelligenter und genügsamer Mensch, der sich gut einfügen kann. Obwohl ihm der Vater, der die Familie früh verlassen hat, fehlt, stellt er sich nicht gegen den neuen Mann an der Seite seiner hart arbeitenden Mutter oder deren Neuanfang als Karrierefrau in Spanien. Ob in familiären oder freundschaftlichen Konstellationen, später im Gefängnis oder in der Therapie, Arthur ist – im Gegensatz zu seinem Bruder – keine Rebellennatur. In einer Dreiecksbeziehung mit seinen Freunden Milla und Princeton findet er nicht nur Anschluss und Verständnis, sondern auch eine Zukunftsperspektive – bis ein tragischer Unfall alles verändert. Getrieben von Schmerz und Aussichtslosigkeit flüchtet Arthur nach Wien und wird durch eine unglückliche Lage und erstmaliges Aufbegehren zum Internetkriminellen.

Als er im Alter von 22 Jahren schließlich aus seiner über zweijährigen Haftstrafe entlassen wird, muss Arthur lernen, dass die Hindernisse auf dem Weg zurück ins Leben schwer zu bewältigen sind. Dem von Panikattacken und Flashbacks begleiteten Protagonisten, der sich einerseits durch ein hohes Maß an Selbstreflexion auszeichnet, andererseits aber in Verdrängung übt, wird der Therapeut Börd zur Seite gestellt. Dieser beweist, dass man sein eigenes Leben nicht unbedingt im Griff haben muss, um anderen helfen zu können. Mit wissenschaftlichen Standards und Regeln nimmt es Börd nicht so genau, aber ein echtes Interesse am Menschen ist ihm nicht abzusprechen. Er weiß, dass es die gute Tat in der schlechten gibt, genauso wie es die schlechte Tat in der guten gibt. Mithilfe unkonventioneller Methoden will er dem traumatisierten Arthur zu einer Optimalversion seiner selbst verhelfen und ihn zur idealen Hauptfigur seines eigenen Lebens machen.

Bereits in ihrem Romandebüt Wir ohne Wal (2016) stellte Birgit Birnbacher ihre soziologische Expertise und ihr Talent, von normabweichenden Lebensläufen zu erzählen, unter Beweis. Dabei zeigt die Autorin nicht urteilend, sondern empathisch auf, dass das Leben immer wieder Überraschungen, Unplanbarkeiten oder Sackgassen birgt und dass auf dem Weg zu einem Neustart oft größere Umwege bewältigt werden müssen. In Ich an meiner Seite scheinen nur jene Figuren eine „glatte“, geradlinige Biografie aufzuweisen, die die Leser*innen nicht näher kennenlernen. Denn egal wie stark die facettenreichen Nebenfiguren erscheinen, werden sie doch alle von ähnlichen Problemen begleitet, allen voran der Einsamkeit. Das von Börd propagierte Hauptfiguren-Dasein, das Schreiben des eigenen Drehbuchs eines Lebens, führt niemand so gut vor, wie die glamouröse, erkrankte Grazetta, alternde Schauspielerin und mütterliche Leitfigur. Doch auch sie zeigt die Notwendigkeit von menschlichen Kontakten und Zuneigung auf, die dem Menschen einmal durch Außenwirkung, einmal durch Eigenverschuldung abhandenkommen können. Die physische und psychische Abwesenheit der Vater- respektive Mutterfigur, das Verlassenwerden, der Tod eines geliebten Menschen, sowie die Ausgrenzung und Misshandlung im Gefängnis hinterlassen bei Arthur nicht nur temporäre Wunden, sondern Narben, die ihn wohl ein Leben lang begleiten werden. Birgit Birnbacher entfaltet die Antworten auf die Frage nach Ursache und Wirkung im Rahmen von Arthurs beschwerlicher Biografie, indem sie Vergangenheit und Gegenwart in den einzelnen Kapiteln zwar abwechselt, diese aber gleichzeitig  ineinander verwebt, wenn sie das Ende dem Anfang ihrer Erzählung voranstellt.

Nicht zuletzt überzeugt die Autorin in ihrem neuen Roman durch ihr Verständnis für die Fragilität des Menschen und seiner Psyche. Überzeugend porträtiert sie die feinen Nuancen menschlichen Antriebs und zwischenmenschlicher Dynamiken. Das zeigt sich nicht nur in der Tragikomik von Arthurs und Börds Beziehung, sondern auch in Birnbachers klarer und direkter Sprache, wobei das Offensichtliche nicht immer gesagt werden muss. Satirische Elemente, wie der Ausstieg aus der Austerität des vaterlosen Provinzlebens in Österreich, der Aufstieg zum Wohlstand einer eine Palliativklinik leitenden Patchworkfamilie in Spanien oder der „Ex-Knacki turned YouTuber“-WG-Mitbewohner, der an OCD leidet und vorführt, dass Erfolg allein nicht reicht, um ein „erfolgreiches“ Leben zu führen, halten das Interesse der Leser*innen aufrecht. Bis der brave Arthur Galleij, für den es eine reale Vorlage gab, schließlich lernt: er ist nicht besser, als er ist; kein Glanzbild wird ihn retten können; er steht an seiner Seite und nur so kann er es schaffen.

 

Katarina Fischer

 

Die ersten 10 Seiten aus ihrem Roman liest Birgit Birnbacher unter www.zehnseiten.de vor.

 

 


Ich an meiner Seite,
der zweite Roman der Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher (geb. 1985 in Schwarzach im Pongau, Österreich)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Birgit Birnbachers Debütroman
Wir ohne Wal

(Jung und Jung 2016)


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Mai 2020

 

   

Christian Dürr: Die Befreiung oder Marcelos Ende 
bahoe books 2019.

Die Corona-Pandemie verunmöglicht nicht nur zahllose kulturelle Veranstaltungen, auch Möglichkeiten des kollektiven Gedenkens, die gerade 75 Jahre nach Kriegsende besonders symbolträchtig sind, können nun nicht in der gewohnten Form abgehalten werden. So kann auch die seit 1946 jährlich stattfindende Befreiungsfeier in Mauthausen nur virtuell stattfinden — am 10. Mai 2020 auf www.mkoe.at.

Der Historiker Christian Dürr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator der Gedenkstätte Mauthausen. Sein zweiter Schwerpunkt umfasst die argentinische Militärdiktatur: Als Research Fellow am Centro de Estudios sobre Genocidio der Universidad Nacional de Tres de Febrero in Buenos Aires beschäftigte er sich intensiv mit Zeugnissen von Überlebenden der geheimen Folterlager. In seinem Romandebüt, erschienen 2019 im Wiener Verlag bahoe books, führt er nun beide Themenbereich zusammen. Im Mittelpunkt des in vier Teile gegliederten Textes steht Manuel Gluckstein, geboren 1947 im DP-Lager Bindermichl in Linz. Dort hatten sich seine Eltern nach ihrer Zeit im KZ wiedergefunden, drei Jahre später emigrieren sie mit dem kleinen Sohn nach Argentinien. Manuel wird erwachsen und durch Kontakte an der Uni politisiert und politisch aktiv. Doch nach dem Militärputsch 1976 wird jede nicht-system-konforme Aktivität gefährlich: Er und seine Mitstreiter*innen werden verraten und in einem geheimen Internierungszentrum, genannt „Pozo“ („Schacht“), gefangen gehalten und gefoltert. Manuel wird nach einiger Zeit freigelassen und versucht sein Leben weiterzuführen. Doch immer wieder taucht plötzlich Marcelo auf, jener Mann, der ihn gefoltert hat. 

Erzählt werden seine Erlebnisse, ebenso wie das, was seinen Eltern widerfahren ist, nicht nur in narrativer Form, sondern in verschiedensten, auch dokumentarischen Elementen: Vernehmungsprotokolle, Interviews, Dokumente wie ein Schreiben des Österreichischen Innenministeriums an seinen Vater, in dem diesem mitgeteilt wird, dass er seitens der Republik keinen Anspruch auf Entschädigung für erlittenes Unrecht im KZ habe. Dürr verzichtet dabei auch auf eine chronologische Vorgangsweise; ähnlich wie beim Zusammensetzen eines Puzzles werden nach und nach die Ereignisse offengelegt — auch und vor allem, welche Auswirkungen diese nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen, sondern auch auf nachfolgende Generationen haben. So wird erst spät offengelegt, welcher österreichische Ortsname auf dem Bahnhof zu lesen ist, der in einem Alptraum immer wiederkehrt: Rechnitz. 

Thematisch und sprachlich erinnert der Roman in seiner wohltuenden Unaufgeregtheit an die Texte von Erich Hackl, der ihn auch auf höchst liebenswürdige Weise besprochen hat, nachzulesen unter www.bahoebooks.net.

Auf genauer Faktenkenntnis beruhend werden die Grausamkeiten des NS-Regimes und der argentinischen Militärdiktatur literarisiert, ohne dabei jemals aufzurechnen oder zu relativieren. Das ist umso bemerkenswerter, als ja letztere im österreichischen kollektiven Bewusstsein keine besonders große Rolle spielt, um nicht zu sagen, oft ausgeblendet wurde — beispielhaft dafür kann die Tatsache stehen, dass 1978 das so genannte (Fußball-)„Wunder von Córdoba“ in Österreich frenetisch befeiert wurde, während wenige Kilometer vom argentinischen Fußballstadion entfernt Menschen grausam gefoltert und getötet wurden. Einen sehenswerten Einblick in diese Zeit und ihre moralischen Ambivalenzen gibt übrigens auch Zwei Päpste, ein sehenswerter Netflix-Film des brasilianischen Regisseurs Fernando Meirelles mit einem Drehbuch von Anthony McCarten: Dort erinnert sich in Rückblenden der spätere Papst Jorge Mario Bergoglio an die schwierigen Entscheidungen, die er damals als Provinzial der Jesuitengetroffen hat — und von denen er manche rückblickend bereut. 

Zurück zu Dürrs Roman: In der nüchternen Darstellung der Lebenswege von der Hauptfigur Manuel und seiner Eltern wird deutlich, dass nach einer so massiven Erfahrung das Leben nie mehr so werden kann, wie es einmal war, das Erlebte kaum in das Leben danach integriert werden kann. Die Mutter formuliert in einem Interview, die Toten hätten Glück, weil sie die Geschichten des Geschehenen nicht erzählen müssten:

Sie sind jetzt tot. Und sie müssen sie nicht mehr erzählen. Das ist ihr Glück. Aber wir tragen diese Geschichten mit uns herum. Wir müssen irgendetwas damit machen, für uns selbst und für all die anderen, die jetzt tot sind. Aber wir wissen nicht was. Ich weiß es nicht. Was soll ich damit machen? Ich weiß nur, irgendetwas muss es sein. (S. 69) 

In diesem Sinn hat Christian Dürr mit seinem Roman dazu beigetragen, die Geschichten zumindest ein Stück weit in ein kollektives Erinnern an das, was geschehen ist, in Österreich wie in Argentinien, zu integrieren. 

Kathrin Wexberg

 

 


Die Befreiung oder Marcelos Ende
Debütroman von
Christian Dürr


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April 2020

 

   

Birgit Weyhe: Lebenslinien
Berlin: avant-Verlag 2020.

Wie viel braucht es um ein Leben zu erzählen?
In Birgit Weyhes neuer Graphic Novel sind es nicht mehr als drei Seiten bzw. 18 Bilder. In jeweils 3x6 quadratischen Panels, die an einem fixen, gleichmäßig geordneten Raster ausgerichtet werden, zeichnet die vielfach ausgezeichnete deutsche Comickünstlerin die „Lebenslinien“ von 30 Menschen nach, die aus unterschiedlichsten kulturellen und nationalen Kontexten kommen, verschiedenste Sprache sprechen und unterschiedlichste Erfahrungen gemacht, aber eines gemeinsam haben: Heimat bzw. Zuhause bedeutet für sie nicht so sehr einen geografisch festmachbaren Ort, sondern ist vielmehr mit Menschen, Sprachen, Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen oder gar dem Unterwegssein selbst verknüpft.

Da ist zum Beispiel Ina, die als Tochter einer deutschen Mutter in Island geboren wird, in Mosambik ihren Mann aus Israel kennenlernt und deren gemeinsame Kinder nun in vier Sprachen aufwachsen. Da ist Norma, die indigene kommunistische Aktivistin aus Peru, die nach dem Putsch der Regierung über Ecuador und Kuba nach Hamburg flüchtet. Kalina aus Polen, deren Tante ihr zum Spaß ein paar deutsche Worte beibringt, weshalb sie schließlich Germanstik studiert und in der deutschsprachigen Literatur eine zweite Heimat findet. Oder Moh, der in Afghanistan als Dolmetscher für Amerikaner*innen arbeitet, aufgrund der Bedrohung durch die Taliban in Deutschland Asyl beantragt, darauf jedoch viele Jahre lang wartet, während Afghanistan offiziell wieder als „sicheres Herkunftsland“ gilt... Nicht für alle Figuren werden die Brüche in ihrer Biografie zu willkommenen Chancen eines vielversprechenden Neuanfangs. Immer wieder sind sie mit Verlust, Schmerz oder auch Gewalt verbunden; für manche wird das Ankommen zu einer täglichen Herausforderung. Und auch Birgit Weyhe kann auf eine bewegte Biografie zurückblicken: Ihre Kindheit und Jugend verbrachte die 1969 in München geborene Comiczeichnerin in Kenia und Uganda, nach dem Abitur kehrte sie jedoch nach Deutschland zurück und absolvierte in Hamburg ihr Studium der Illustrationskunst. Dennoch bleibt Ostafrika für sie bis heute „ein Stück Heimat“.

Konstitutiv für ihre überwiegend (auto-)biografische Comickunst ist dabei das Moment des Erinnerns – wie auch die formale Struktur der Kurzcomic-Reihe. Schon in ihrem erstmals 2008 erschienenen Band Ich weiß (MamiVerlag; Neuausgabe 2017 beim avant-verlag) erzählt Weyhe mehrere Geschichten, die zum Einen auf ihren Erinnerungen an ihre Erfahrungen in Afrika und zum Anderen auf afrikanischen Mythen beruhen und zwischen Realem und Phantastischem changieren. In Madgermanes (avant-verlag 2016), für das Weyhe den Deutschen Comicpreis erhielt, berichtet sie von drei Gastarbeiter*innen aus Mosambik, die Ende der 70er-Jahre als Vertragsarbeiter*innen in die DDR geschickt wurden, einen Großteil ihrer Löhne aber nie zu Gesicht bekamen und nach der Wende wieder in ihre alte Heimat zurückgeschickt wurden. Während die Figuren der drei in Bild und Text erzählten Geschichten fiktiv sind, basieren deren Erlebnisse auf den Schilderungen von Betroffenen, die Weyhe in Interviews zu ihren Erinnerungen an diesen Abschnitt ihres Lebens befragt hat. Dieserart Gespräche mit außerfiktionalen Vorbildern speisen auch ihr neuestes Buchprojekt, die vorliegenden Lebenslinien.

Darin beeindruckt besonders, wie vielschichtig und intensiv die Autorin die Erfahrungen der Figuren mithilfe einiger weniger Bilder und Sätze darzustellen weiß. Für die einzelnen Geschichten wählt Weyhe dabei eine jeweils andere Zweifarbigkeit, in der sie die Basisfarbe Schwarz mal mit kräftigem Rot, mal mit zartem Türkis kombiniert. Ihre überwiegend realistisch-konkreten Zeichnungen ergänzt sie – meist dann, wenn Unaussprechliches nicht unmittelbar gezeigt werden kann – mit abstrakt-symbolischer Bildsprache. Die strikte, regelmäßige Struktur ihrer Panel-Biografien ist dabei sicherlich auch auf deren Entstehungskontext zurückzuführen: Entwickelt hat Birgit Weyhe den Großteil der Zeichnungen für die Comicseite der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel, wo sie von April 2017 bis Mai 2019 als monatliche Reihe veröffentlicht wurden. Für die Buchausgabe hat die Autorin ihre ursprünglichen Erzählungen um jeweils zwei zusätzliche Bilder ergänzt und drei weitere, bis dahin unveröffentlichte Geschichten hinzugefügt. Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle, vielseitige Graphic Novel, die man am besten nicht in einem „durchliest“, sondern in ihrer Fragmentiertheit auf sich wirken lässt. In ihrer Kürze und Kompaktheit bieten sich die Geschichten auch für eine erste Annäherung an das Genre für noch nicht so erfahrene Comic-Leser*innen an.

Claudia Sackl

 

 

Lebenslinien von Birgit Weyhe (geb. 1969 in München)


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März 2020

 

   

Tine Høeg: Neue Reisende. Roman
Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich.
Wien: Droschl 2020.


wie verkürzt kann
ein Text
ein Roman
eine Rezension sein

wie genau müssen
orthografische Regeln eingehalten werden
gibt es Regeln
braucht es die

in Tine Høegs Versroman nicht

Leser*innen begleiten die namenlose Protagonistin über einige Monate hinweg
die Namen der Monate
die einzige Einteilung im Text
auf Überschriften wird verzichtet
stattdessen minimalistische Sternchen
die den Text gliedern

*
hier ist kein Zutritt für Schüler

der Hausmeister steht in der Tür zum Kopierraum
ich bin Lehrerin sage ich
und zeige ihm meine Chipkarte

er schaut lange drauf
vergiss nicht hinterher aufzuräumen sagt er

kurze Sätze
keine Punkte Beistriche
ab und an ein : ein einsames ? oder !
zwischen den zersprungenen Zeilen

eine junge Lehrerin lernt in der Bahn einen verheirateten Mann kennen
sie beginnen eine Affäre
deren Verlauf wird verdichtet dargestellt
strukturiert durch das gezählte Wiedersehen der beiden

mir ist etwas schwindelig sagst du
das neunte Mal dass ich dich nackt sehe
als du gehst läufst du im Treppenhaus
gegen die Scheibe beim Aufzug

deine Stirn hinterlässt
einen fettigen Abdruck

in all seiner Verkürzung
ist im Text kaum Platz für Personenbeschreibung und andere Äußerlichkeiten
das Innenleben der Protagonistin wirkt umso stärker

neben der Affäre versucht sie
verzweifelt
verzweifelnd
ihren Platz als Junglehrerin zu finden
zwischen älteren erfahrenen Kolleg*innen und Schüler* innen kaum jünger als sie

sprachlich äußerst reduziert wird ein Bild einer jungen Frau gezeichnet
einer Suchenden
nach ihrem Platz in der Gesellschaft

Verunsicherung dominiert
hinsichtlich ihrer Stellung als Lehrerin
aber auch als Geliebte

Gefühle entwickeln sich
die Unsicherheiten wachsen
Routine und Selbstbewusstsein fehlen für das professionelle Auftreten
das eigene Ich-Verständnis erleidet Brüche

in Dänemark wurde der Roman als bestes Debüt ausgezeichnet
unkonventionell schreibt die Autorin von Ängsten Unsicherheiten ersten und letzten Malen
schafft damit einen Plot mit wenigen Worten
aber tiefen Emotionen

Alexandra Hofer

 

Neue Reisende, Debütroman
von Tine Høeg (geb. 1985 in Dänemark)


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Februar 2020

 

   
Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben
Zürich: Diogenes 2019.

„Schreiben will gelernt sein“, heißt es oft, wenn man darüber spricht, den Stift in die eigene Hand zu nehmen, in der Intention etwas Großartiges aufs Papier bringen zu wollen. Einen ganz anderen Ansatz vertritt die deutsche Regisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin in ihrem neuen Buch Leben, schreiben, atmen:

Der Schlüssel zum Schreiben ist, nicht nachzudenken, um die Inspiration nicht zu unterbrechen. Probiere es aus: Schreib los. Jetzt!
Dafür drei Regeln:
1. Schreib zehn Minuten ohne Pause. Am besten mit der Hand.
Lass dich treiben.
2. Denk nicht nach. (Wenn man zu viel nachdenkt, hört man prompt auf zu schreiben.)
3. Kontrollier nicht, was du schreibst. Mach Schreibfehler, Grammatikfehler, schreib Blödsinn.


So einfach klingt das bei Doris Dörrie. Sie animiert Leserinnen und Leser, die Furcht vor dem Schreiben abzulegen. Der Aufbau dieses Buches, dass eine hybride Form zwischen Sachbuch, Ratgeber und prosaischem Text ist, ist einfach: Entlang ihrer Biographie erzählt die Autorin in rund 50 kurzen Kapitel, die manchmal nur zwei Seiten umfassen, Passagen aus ihrem Leben, die sie mit konkreten Aufgabenstellungen an die Rezipient*innen abschließt.

Thematisch wird den Texten dabei keine Grenzen gesetzt: sie schreibt über einen heißgeliebten Rock in ihrer Jugendzeit und einem Kleidchen, dass sie für ihre Tochter kauft, da es sie an ihre eigenen jungen Jahre erinnert. Über Essen aus ihrer Kindheit, das Kennenlernen ihres Ehemanns, ihre Tochter, aber auch über Drogen und andere Substanzen, die eigenen Ängste und(Nicht-)Erinnerungen. Diese kurzen Texte können sowohl als eigenständige Kurzgeschichten, als auch als gesamter autobiographischer Bogen gelesen werden. Die Aufforderungen, einen Stift in die Hand zu nehmen, sind dabei ebenso vielfältig und hängen mit dem zuvor Erzählten zusammen und reichen von ganz basalen Dingen wie Schreib über Brot oder Schreib über dein erstes Kleidungsstück, bin hin zu tiefgehenden Aspekten aus dem eigenen Leben:

Schreib über einen fremden Ort. Wer warst du in der Fremde? Was war dir fremd?
Schreib über das erste Mal. Das erste Mal von irgendwas. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – Quatsch. Manchmal ist der Anfang, das erste Mal einfach nur Mist, eine Enttäuschung. Ein Alptraum. Manchmal aber ist er tatsächlich verzaubert.

Doris Dörrie schreibt neben der Tatsache, dass man einfach schreiben soll – „Jetzt“ – auch davon, dass die eigene Biographie und die eigenen Erinnerungen ganz wesentlich für das Schreiben sind, da gerade Erlebnisse, die in der Kindheit liegen, häufig sehr präsent und detailreich in unseren Köpfen abgespeichert sind. Kurzweilig und unaufgeregt entsteht so ein Schreib-„Ratgeber“ der etwas anderen Art.

Alexandra Hofer

 

Leben, schreiben, atmen
von Doris Dörrie (geb. 1955 in Hannover)


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Jänner 2020

 

   

Biedermeierliches Wien, Fake News aus der Zwischenkriegszeit und Paris der 1930er-Jahre:
Die Lese-Tipps im Jänner 2020 stammen diesmal vom Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, das Kooperationspartner im >>> Fernkurs für Literatur ist. Zwischen Fakten und Fiktionen bewegen sich die drei empfohlenen Bücher, die historische Ereignisse in eine literarische Erzählung verpacken:

 

Bettina Balàka: Die Tauben von Brünn
Wien: Deuticke 2019.

Berta Hüttler wächst im biedermeierlichen Wien in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vater ist Taubenzüchter, die Mutter leidet an Schwindsucht. Der verzweifelte Vater verfällt dem in Wien grassierenden Lottofieber. Mit einem Gewinn könnte er seine Frau behandeln lassen und seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen. Doch das Glück ist ihm nicht hold, seine Frau stirbt und bald darauf segnet auch er das Zeitliche. Die Kinder werden zu Verwandten aufs Land geschickt. Berta kommt zu einer Tante nach Brünn, wo sie die Familientradition fortsetzt und Brieftauben züchtet. Als Wohltäter erweist sich ein Wiener Freund aus Kinderzeiten, der zu immensem Reichtum gekommen ist und sich nun Johann Karl von Sothen nennen darf. Er lädt Berta immer wieder ein und spielt dem Mädchen vor, in sie verliebt zu sein. Doch als sie ein Kind erwartet, heiratet er eine andere. Dennoch lässt er sie nicht ganz fallen und unterstützt sie weiterhin. Dahinter steht ein abgefeimter Plan.

Wenn in Brünn die Lottoziehung erfolgt ist, kann man in Wien noch so lange setzen, bis der Bote mit den Gewinnzahlen eintrifft. Also soll Berta mit einer Brieftaube, die ja schneller als der berittene Bote ist, die Zahlen nach Wien schicken. Berta weigert sich zunächst, doch Sothen droht, sie und ihren kleinen Sohn nicht mehr zu unterstützen. Also fügt sie sich und das Vermögen des Betrügers wächst ins Unermessliche. In der Gesellschaft gibt er sich als Wohltäter, in der Praxis beutet er seine Arbeiter gnadenlos aus. Doch er hat den Bogen überspannt. Man munkelt schon über sein sagenhaftes Glück im Lotto. Und Bertas Bruder Eduard weiß darüber hinaus, dass Sothen seinem im Sterben liegenden Vater einen Lottoschein stahl und mit dem Gewinn sein Vermögen begründete. Eduard ist nun zu allem entschlossen...

Der Roman handelt von dem historisch belegten Fall des Johann Karl von Sothen, der aus kleinsten Verhältnissen zu einem der reichsten, aber auch meistgehassten Männer Wiens aufstieg. Die Autorin hat aus ihren Recherchen keine Dokumentation, sondern einen ungemein stimmigen Roman geschaffen. Die Schilderung des biedermeierlichen Wien erscheint äußerst plausibel, ohne Kitsch und mit einer schonungslosen Beschreibung des himmelschreienden Elends der kleinen Leute, die auf Gedeih und Verderb ihren Brotgebern ausgeliefert waren. Doch auch von den schönen Dingen wird erzählt, von Hilfsbereitschaft, Geselligkeit, Freude an der Natur bei den Wanderungen im Wienerwald und, vor allem am Beispiel von Berta, die unbändige Lust auf Bildung. Ein Gustostückerl für sich sind die Gespräche, die sie mit einem Fossilien sammelnden Arzt führt, den sie bei seinen Ausflügen in den Sieveringer Steinbruch begleitet. Hier spürt man schon einen aufklärerischen Wind wehen. Mit Berta ist Bettina Balàka überhaupt eine wunderbare Figur gelungen. Das durch eine Hasenscharte entstellte Mädchen hat kaum Aussicht auf Heirat, hadert aber nicht mit ihrem Schicksal, sondern weiß die, wenn auch bescheidenen Chancen, die ihr das Leben bietet, zu nützen. Den reizvollen Roman, der auch ein Stück Kulturgeschichte bietet, kann man nur wärmstens empfehlen.

Ingrid Kainzner | bn

 

Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman
Zürich: Diogenes 2019.

Zu Beginn des Jahres 1918 war es für die deutsche Heeresführung absehbar, dass der Krieg verloren ist. Das Außenamt in Berlin dachte an die Zukunft und forcierte ein Buchprojekt. Der in Großauflage geplante Roman sollte den italienischen und englischen Freimaurern die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs geben.
Man suchte einen Autor, der erstens bekannt war und zweitens als unabhängig erachtet wurde. So kam Gustav Meyrink ins Spiel: österreichischer Schriftsteller, Lebemensch, Bankrotteur, Theosoph und durch die Publikation von "Der Golem" ein Vorreiter der fantastischen Literatur. Meyrink lebte damals in einer Villa am Starnberger See und konnte schlecht ablehnen. Es war zwar ein lächerliches Unterfangen, das er nicht billigte, aber der Vorschuss war hoch und er in Geldnöten.

Christoph Poschenrieder, der bereits zwei Bücher über die Zeit des Ersten Weltkriegs veröffentlichte, verwandelt diese unglaubliche Episode in einen packenden Roman. Nachdem es nur wenige Quellen zu dieser wahren Begebenheit gibt, hält er sich an eine Aussage Meyrinks, dass bei zwei Versionen einer Geschichte nicht die wahre, sondern die interessante überlebt. Meyrink hatte bereits Mühe mit dem ersten Satz des propagandistischen Romans und hoffte, dass der Krieg endet, bevor er seinen Vertrag erfüllen kann. Er trifft Zeitgenossen, wie den Revolutionär Erich Mühsam und erlebt in München den Aufmarsch der Kriegsinvaliden, die nach dem Krieg sich selbst überlassen wurden. Der Autor dokumentiert immer wieder in kurzen Einschüben zwischen den Kapiteln Quellen und Ergebnisse von Recherchen.

Poschenrieder gelingt ein herrliches Buch, indem er ein lebendiges Bild jener Umsturzzeit zeichnet und die mögliche Entstehung einer politischen Lüge aufzeigt. Die Beschreibung der Personen und die Sprachmächtigkeit des Autors bereiten großes Lesevergnügen. Hiermit eine echte Empfehlung.

Josef Kunz | bn

 

Bettina Wohlfarth: Wagfalls Erbe
Hamburg: Osburg 2019.

Bettina Wohlfahrt lebt seit 1990 als freie Übersetzerin und Journalistin in Paris und berichtet für die Frankfurter Allgemeine Zeitung regelmäßig über den Pariser Kunstmarkt. Derart vorbelastet gruppiert sich Wohlfahrts Debütroman um den Kunstfälscher Isidor Schweig, mit dem wir eingangs gemütlich durch das Paris des Jahres 1936 schlendern. Bald darauf treffen wir auf die im Hier und Jetzt lebende Karolin Wagfall, die auf dem Dachboden zwölf Hefte entdeckt, die nach und nach das geheime Doppelleben ihres 1914 geborenen und mittlerweile gestorbenen Vaters Viktor offenbaren: Der biedere Vater, den sie als leitenden Angestellten bei der Bahn gekannt hatte, war für kurze Zeit seines Lebens zugleich niemand anderer als jener Bohemien Isidor Schweig gewesen. Dieser erzählerische Rahmen bietet Wohlfahrt die Bühne, um über Vater-Tochter-Beziehungen, das Verhältnis von Frankreich zu Deutschland, von Original zu Fälschung, von Boheme und Biedermann zu reflektieren und nicht zuletzt das menschliche Handeln in Friedens- und Kriegszeiten zu hinterfragen. Denn es stellt sich heraus, dass Viktor nicht nur 1936, sondern auch während der deutschen Besatzungszeit in Paris war und dort als Oberinspektor der Reichsbahn am massenhaften Abtransport geraubter Kunst beteiligt war. So gelingt es Wohlfarth, quasi als übergreifendes Thema, ihr offenbar reichliches Hintergrundwissen über den Kunstraub der Nazis einzubringen. Dieses Wissen hätte vermutlich auch für ein tiefgründiges Sachbuch gereicht, uns aber um den Genuss einer mit den Fakten verwobenen und gleichermaßen berührenden wie eloquenten Fiktion gebracht.

Simone Klein | bn

 

 


www.biblio.at

 

 


Über Bettina Balàkas Die Tauben von Brünn und andere Bücher diskutierten Brigitte Schwens-Harrant (DIE FURCHE), Alfred Pfoser (Falter u.a.) und Evelyne Polt-Heinzl (Die Presse u.a.) am Mittwoch, den 15. Jänner 2020 um 19 Uhr im RadioCafe im Wiener Funkhaus. Nachzuhören ist das Gespräch in den PASSAGEN am 3. Februar 2020 um 16.06 Uhr in Ö1.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



 

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