Oktober 2023
Die aktuellen Lese-Tipps werden in Kooperation mit dem Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, einem unserer Kooperationspartner im Fernkurs für Literatur >>> lyrikLESEN (Oktober 2023 bis Juni 2024) präsentiert:
Sabine Gruber: Am besten lebe ich ausgedacht. Journalgedichte
Haymon 2022
Die 1963 in Meran geborene Sabine Gruber lebt heute, nach einigen Jahren Unterrichtstätigkeit an der Venediger Universität, als freischaffende Schriftstellerin in Wien. Sie hat für ihr literarisches Schaffen, das Romane, Lyrik, Erzählungen, Theaterstücke und Essays umfasst, bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Für ihr neuestes Werk hat Gruber 44 »Journalgedichte« zusammen-
getragen, in denen ein lyrisches Ich über den Abschied, das Bewahren und das (Wieder-)Anfangen reflektiert und dabei auf reichlich gesammelte Erfahrungen und Verluste zurückblicken kann: Meine Lebensmänner / Sind alle tot, der Körper ist längst / Nicht mehr im Lot.
Implizit schwingen in den Texten Gedanken über die Endlichkeit des eigenen Daseins und Handelns mit – sie spiegeln sich sogar in Reflexionen über den Prozess des Schreibens und Verwerfens wider: Du aber / Bist im Zerknüllten, im Knitterland / Tot. Beeindruckend ist die Intensität, mit der das Ankämpfen gegen das Vergessen und die Vehemenz des Erinnerns an Orte, Gegenstände, Gerüche und Bilder geschildert wird. Diese Polarität resultiert in einem seltsamen Zweiklang aus dichterischer Traurigkeit und Zuversicht: Schreiben / Um zu lieben, wenn kein Sprechen mehr hilft. Der Titel »Am besten lebe ich ausgedacht« drückt damit zugleich Resignation und steten Neubeginn aus.
In merkwürdigem Kontrast zur Sensibilität der Sprache in den Texten steht ihre strenge Form: Jedes Gedicht umfasst exakt 20 Zeilen. Die zahlreichen Enjambements dürften daher eher der Einhaltung des durchgehenden Schemas als einer lyrischen Funktion geschuldet sein, wobei der Zweck dieser mechanischen Diszipliniertheit nur zu erahnen bleibt.
*bn* Simone Klein
Christoph W. Bauer: an den hunden erkennst du die zeiten. gedichte
Haymon 2022
Der bereits vielfach ausgezeichnete Dichter hat den ersten Zyklus seines Gedichtbands ganz zurecht mit »Cave canem« betitelt: Hüte dich vor dem Hund! Denn Bauer versteht es zu knurren, zu bellen und gelegentlich auch zuzuschnappen. Dies nicht ohne Humor, etwa wenn er den experten für alles in lärmigen zeiten empfiehlt, sich einzugestehen: allemal ich habe keine ahnung aber davon viel. Auch wenn Bauer in Vergangenem, Gegenwärtigem und geografisch weitläufig herumstreunt – von Wattens bis ans Meer bei Trapezunt, ins antike Caesarea und zurück in die Wachau – so karikiert er vor allem den Zeitgeist. Insbesondere die Kunst- und Expert*innenwelt ist nicht sicher vor seinen Bemerkungen.
Bauers Gedichte, in seiner eigenen witzigen Diktion viel Weißraum, der das bisschen Text umgibt, sind in der Tat das Resultat meisterhafter und maximaler sprachlicher Verdichtung. Auch hier gilt: Cave canem! Hüte Dich, denn seine Gedichte sind trotz allen Humors auch Verdichtungen wider die allseits so beliebte Niederschwelligkeit und wollen aktiv erarbeitet werden. Das geht unter anderem aus den vielen doppelsinnigen Enjambements hervor.
Lässt man sich auf eine aktive Lektüre ein, wird der schmale Band zu einem bereichernden Erlebnis!
*bn* Simone Klein |
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September 2023
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Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. (Hg.): Ihr habt da was vergessen … Frauengeschichte sichtbar machen.
Leipzig 2022.
Frauen haben schon immer die Gesellschaft geprägt […] und […] Spuren in der Geschichte hinterlassen […] – wir müssen sie nur von dem Staub der Unterdrückung befreien und anfangen, von ihnen zu erzählen.
Von vergessenen – oder besser: aus der Erinnerung und Geschichts-
schreibung (bewusst oder unbewusst) ausgesparten – Frauen, die im 19. und 20. Jahrhundert das Leben in Leipzig und Sachsen geprägt haben, erzählt jenes Leseheft, das im vergangenen Jahr von der
>>> Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. herausgegeben wurde. Produziert wurde das Heft vom >>> fem/pulse-Team der in Leipzig ansässigen Gesellschaft, das es sich zum Ziel gesetzt hat, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen feministische Impulse zu setzen, indem es sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen* [1] – heute sowie in der Geschichte – einsetzt. Auf 46 äußerst lesenswerten Seiten werden in dem auch optisch sehr ansprechend gestalteten Heft elf Frauen vorgestellt, die sich im Laufe der vergangenen 200 Jahre in Leipzig (und darüber hinaus) für gesellschaftliche Veränderungen und die Gleichberechtigung von Frauen* eingesetzt haben und die in unserer – männlichen geprägten – öffentlichen Erinnerungskultur oft nicht oder zu wenig beachtet werden.
Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, Sportlerinnen und Aktivistinnen, Arbeiterinnen und Wissenschaftlerinnen – die in dem Leseheft porträtierten Frauen haben vielfältige Leben gelebt und sich in vielfachen Bereichen (von Arbeit und Sport über Körper und Sexualität bis hin zu Kunst und Politik) für Frauenrechte und Emanzipation engagiert. So etwa die Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin und Frauenpolitikerin, die der Gesellschaft ihren Namen gab: Tatsächlich ist das Wirken von Louise Otto-Peters so vielseitig, dass es kaum in ein paar Sätzen zusammengefasst werden kann. 1849 – in einer Zeit, in der es Frauen verboten wurde, Zeitungen herauszubringen – gründete sie etwa eine »Frauen-Zeitung«, in der sie schon früh das Grundsatzprogramm der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung ausformulierte. Weitere der im Heft vorgestellten Frauen sind etwa die Autorinnen Auguste Schmidt und Elsa Asenijeff, die Künstlerinnen Käthe Kollwitz und Gerda Taro, die Widerstandskämpferin Maria Grollmuss, die Juristin Elsa Hermann oder die Ärztin und Sexualwissenschaftlerin Lykke Aresin.
Jeder Frau wird dabei eine Doppelseite gewidmet, auf der zentrale Informationen zur Person zusammengefasst werden und Beispiele aus ihren jeweiligen Arbeiten präsentiert werden. Oftmals handelt es sich dabei um Textausschnitte aus politischen Reden, wissenschaftlichen Beiträgen oder literarischen Publikationen; an anderer Stelle wiederum sind es Fotografien, Gemälde oder Plakate, die Einblick in das Schaffen der – stets auch fotografisch ins Bild gesetzten – Frauen geben. Ergänzt werden diese kurzweiligen Vorstellungen durch Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit den Porträtierten und ihren jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontexten. Diese beinhalten nicht nur konkrete Fragen, Denkimpulse und Ideen für Arbeitsaufträge, sondern stellen auch Hinweise zu weiterführenden Quellen bereit – was das Heft zu einem idealen Arbeitsmaterial für Schule und Bildung macht.
Es ist eine differenzierte gesellschafts- ebenso wie selbstkritische Perspektive, die die Verfasserinnen Pina Bock, Nane Pleger und Katharina Wolf in ihrem Leseheft einnehmen. Dabei zeigen sie nicht nur, wie ein eindimensionaler Blick auf [Geschichte und] Geschichtsschreibung die Sicht auf das Schaffen und die Kämpfe vieler Frauen* oftmals einschränkt oder gar versperrt, sondern schreiben auch gemeinsam gegen das Vergessen und gegen das »Ent_Innern« [2] dieser Frauen und ihrer Geschichten an. Dies tun sie aus einer bewusst gesetzten intersektionalen Perspektive, die das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen wie Sexismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus berücksichtigt. Für manche sperrig klingende Konzepte wie »Intersektionalität« werden dabei ebenso anschaulich wie praxisorientiert erläutert und konsequent in die Darstellungen integriert. So geht das Heft etwa auch auf die Unterschiede in den Kämpfen und Anliegen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung ein – und zeigt auf, dass die in der Leipziger Arbeiter*innenbewegung engagierte Clara Zetkin mit ihrer Beschreibung der doppelten Unfreiheit der Proletarierin schon früh – ja, tatsächlich avant le lettre – Konzepte wie Intersektionalität gedacht und gelebt hat.
Dem Umstand, dass Frauen* oft doppelt (und mehrfach) benachteiligt werden und daher auch oft aus der Erinnerung doppelt [und mehrfach] heraus[fallen], tragen die Verfasserinnen aber nicht nur in den von ihnen vorgestellten Frauenporträts Rechnung, sondern auch wenn sie am Ende des Heftes die nach wie vor bestehenden blinden Flecken in unserer Erinnerung sichtbar machen. Die letzte Doppelseite wird leer gelassen – und spiegelt so die weißen Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses wieder: Während etwa Schwarze Frauen das gesellschaftliche Leben im 19. und 20. Jahrhundert sicherlich mitgeprägt haben, wissen wir nach wie vor zu wenig über die Geschichte nicht-weißer Frauen* in Leipzig (sowie aus vielen anderen Regionen Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz). Daher werden an dieser Stelle auch die Leser*innen des Hefts dazu eingeladen, ihr eigenes Wissen in den Dialog einzubringen, sich einzumischen, bestehende Leerstellen mithilfe von geteiltem Wissen zu schließen – und so gemeinsam die Geschichten von Frauen* weiterzuerzählen.
Es gibt also noch viel zu tun UND es ist schon so viel passiert.
Lasst uns (weiter) darüber sprechen.
Claudia Sackl
Das Leseheft »Ihr habt da was vergessen … Frauengeschichte sichtbar machen« (2022) ist kostenlos auf der Homepage der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft als >>> Download verfügbar oder gegen eine Postversandgebühr auch in gedruckter Ausgabe erhältlich.
Detaillierte Informationen finden Sie hier: www.louiseottopeters-gesellschaft.de/leseheft-fempulse.
Fußnoten:
[1] Die Schreibung von Frauen* mit Sternchen wird dazu genutzt, um auch nicht-cis-Frauen – etwa transsexuelle, Transgender- oder nicht-binäre Personen, die sich als Frau* identifizieren – im Begriff »Frau*« miteinzuschließen.
[2] Mit dem Konzept des »Ent_Innerns« beschreibt der Berliner Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha eine reproduktive Erinnerungshandlung, die gewisse Geschichte(n) – meist jene marginalisierter Gruppen – verschweigt und enthistorisiert, während sie die Darstellung von Geschichte(n) aus der Perspektive der Herrschaftsgruppe normalisiert.
Vgl. Kien Nghi Ha: Macht(T)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft. In: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2005, S. 105-117. |
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www.louiseottopeters-gesellschaft.de
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Sommer 2023
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Sharon Dodua Otoo / Jeannette Oholi (Hg.): Resonanzen – Schwarzes Literaturfestival. Eine Dokumentation
Spector Books 2022
Wieder sind die Tage der deutschsprachigen Literatur (kurz: der Bachmannpreis – die wohl fulminanteste und medienwirksamste Literaturshow im deutschsprachigen Raum – voll im Gange. Und auch Sharon Dodua Otoo, die Autorin der abschließenden Kurslektüre >>> »Adas Raum« (S. Fischer 2020) im Fernkurs für Literatur »nachLESEN«, ist mindestens auf zweifache Weise mit dem Klagenfurter Wettlesen verbunden. 2016 nahm sie selbst daran teil und gewann mit ihrem Text »Herr Gröttrup setzt sich hin« auch prompt den Hauptpreis; 2020 hielt sie schließlich die Klagenfurter Rede zur Literatur, die unter dem Titel >>> »Dürfen Schwarze Blumen malen?« auch in Buchform publiziert wurde. Mittlerweile ist die in London geborene Berlinerin zu einer zentralen Figur der Schwarzen deutschsprachigen Literatur geworden, die sie nicht nur als Autorin, sondern auch als Herausgeberin, Kuratorin und Aktivistin prägt. 2022 organisierte sie so etwa erstmals das Schwarze Literaturfestival »Resonanzen«, das auch dieses Jahr wieder im Rahmen der »Ruhrfestspiele Recklinghausen« stattgefunden hat.
Ein Ingeborg-Bachmann-Preis Wettbewerb mit ausschließlich Schwarzen Literaturkritiker_innen und Schwarzen Autor_innen – als solches wurde das Projekt im Oktober 2020 als Intervention in den nach wie vor viel zu weißen deutschsprachigen Literaturbetrieb geboren. Wettkampf wurde es im Mai 2022 dann zwar keiner, konstruktive Kritik gab es aber allemal: Sechs Autor*innen trugen eigens verfasste Kurztexte zum Thema »Erbe« vor, vier Literaturkritiker*innen diskutierten im Anschluss über das Vorgelesene und mit den Vorlesenden. Wer die bemerkenswerten Texte von Raphaëlle Red, Joe Otim Dramiga, Bahati Glaß, Winni Atiedo Modesto, Melanelle B. C. Hémêfa und Dean Ruddock sowie die aufschlussreichen Wortmeldungen der Jury – bestehend aus Aminata Cissé Schleicher (Germanistin & Amerikanistin, Mitbegründerin von ISD & EOTO), Elisa Diallo (Literaturwissenschaftlerin & Historikerin, Verlegerin), Ibou Coulibaly Diop (Literaturwissenschaftler & Kurator) und Dominique Haensell (Literaturwissenschaftlerin, Autorin & Chefredakteurin beim »Missy Magazine«) – nachlesen möchte, kann dies in der wertigen, in Buchform publizierten Dokumentation der Veranstaltung tun.
Herausgegeben wurde diese von Sharon Doduo Otoo gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Jeannette Oholi. In äußerst ansprechender Aufmachung werden darin nicht nur die Lesungen und Diskussionen der ersten Ausgabe des Resonanzen-Festivals, sondern auch das spannende Rahmenprogramm von 2022 festgehalten. Dieses umfasste unter anderem eine ebenso berührende wie inspirierende Eröffnungsrede von der simbabwischen Schriftstellerin, Filmemacherin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Tsitsi Dangarembga sowie einen zusammenfassenden Kommentar zum Festival von der Diversity-Trainerin Nouria Asfaha (Mitbegründerin & Herausgeberin von »afrolook!«, der ersten Zeitschrift der jüngeren Schwarzen Deutschen Bewegung) – der unter dem Titel »Träume werden wahr« übrigens auch in direktem Anschluss zum Leseheft Nr. 7 aus dem Fernkurs »nachLESEN« gelesen werden kann, in dem die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt das Konzept der »Traum*Hoffnungen« entwirft. Und auch Tsitsi Dangarembga greift in ihrer einleitenden Rede die Fragen auf, wessen Geschichte(n) warum (nicht) erzählt werden, wessen Geschichten(n) im kollektiven Gedächtnis warum (nicht oder zu wenig) erinnert werden und inwiefern Literatur – und ein Literaturfestival – in diese gesellschaftspolitischen (Macht-)Strukturen intervenieren und Einfluss nehmen kann.
Darüber hinaus greifen auch die äußerst vielseitigen literarischen Texte der sechs eingeladenen Autor*innen viele jener Fragestellungen auf, die uns im Laufe des Fernkurses »nachLESEN« beschäftigt haben. So setzt sich etwa Joe Otim Dramige seinem Text »Adlam« mit Literatur und Sprache – in Form von Büchern, aber auch Alltagserzählungen – als Speicher von Wissen auseinander und erzählt dabei nicht nur eine nicht genug erinnerte Geschichte über eine große geopolitische Zäsur in Mali, sondern thematisiert auch das widerständige Potential verschütteter Schriften – und hinterfragt zugleich die dominante Rolle von Schriftlichkeit in der Tradierung von Wissen. Seinem Text stellt er folgendes Zitat von Malcolm X voran, in dem der afroamerikanische Aktivist und Bürgerrechtler das enge Zusammenwirken von Vergangenheit und Zukunft betont:
Armed with the knowledge of our past, we can with confidence charter a course for our future. Culture is an indispensable weapon in the freedom struggle. We must take hold of it and forge the future with the past.
Mit Zitaten – in diesem Fall aus verschiedenen Musiksongs – arbeitet auch Dean Ruddocks Text »pareidolie«, der entlang einer Playlist aus lyrics/Lyrik-Fragmenten von einer Reise ins All berichtet. Ähnlich der im Hip-Hop üblichen Sample-Technik collagiert der Autor dabei seinen Text, der im Erzählen über eine Zukunft im (kolonisierten) Weltraum darauf verweist, was eigentlich immer schon gewesen ist. Die Apokalypse [ist] eben schon lange passiert, bringt es Dominique Haensell in ihrem Kommentar auf den Punkt. Kapitalismuskritik trifft dabei auf Afro-Futurismus, die Grenzen zwischen Poesie und Musik werden porös und aus Altem entsteht Neues.
Neue (Erzähl-)Welten entwerfen auch die anderen vier, hier aus Platzgründen leider nicht näher besprochenen Texte, wenn Sie von vielschichtigen afrodiasporischen Lebensrealitäten und Zugehörigkeiten – zwischen veganer Leberwurst, schneebedecktem Zuckerrohr und vom Haare-Braiden ausgelösten Madeleine-Momenten – erzählen.
Neue, wichtige Wege hat Sharon Dodua Otoo mit dem Schwarzen Literaturfestival, das sie ins Leben gerufen hat, beschritten.
Neue Wege eröffnet sie auch mit der vorliegenden Printpublikation, dank der auch jene, die 2022 nicht vor Ort sein konnten, diesen Spuren folgen können. Sie ist ein Buch für alle, die auch nach dem Bachmannpreis noch nicht genug von (Gesprächen über) Literatur haben – alle, die sich für die Vielfalt Schwarzer deutschsprachiger Literatur interessieren – und alle, die an die subversive Kraft von Literatur glauben.
Claudia Sackl |
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April & Mai 2023
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Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Stuttgart: Klett-Cotta 2023
Nein, das waren keine Menschen mehr, es war eine Masse. Grobkörnig war dieser Zug und doch ganz uniform. Etwas gestern noch Mannigfaltiges war vom Gewicht des darauf abgestellten Sommertags zusammengepresst wie von einem kosmischen Glasblock.
Dass Raphaela Edelbauer eine der großen Romancièren der österreichischen Gegenwartsliteratur ist, hätte wohl schon seit ihren letzten Publikationen »Das flüssige Land« (2019) und »Dave« (2021) niemand mehr anfechten wollen. Wie derzeit kaum ein*e andere*r schafft sie es, in ihren Texten plastische Sprachwelten zu erschaffen, die gleichermaßen fesseln und verblüffen – so auch in »Die Inkommensurablen«, einem historischen Wienroman, der diese Kategorisierung ganz neu denken lässt.
Aber von Beginn weg: Am 30. Juli 1914 wartet ganz Wien in größter Erregung auf das Verstreichen des deutschen Ultimatums gegenüber Russland. An diesem Vorabend des Kriegsausbruchs erreicht der 17-jährige Bauernknecht Hans Ranftler mit dem Nachtzug von Tirol aus die Bahnhofshalle der Hauptstadt. Entgegen der Erwartungen, die ihm von den geschmeidig durchs Gemenge manövrierenden Städter*innen entgegengebracht werden, möchte er sich aber nicht dem kollektiven Kriegstaumel der militärischen Mobilmachung anschließen. Vielmehr ist Hans auf dem Weg zur Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cherech, auf deren Annonce er in einer Tageszeitung gestoßen ist. Diese aber vertröstet sein Erstgespräch auf den Folgetag; noch ohne Unterkunft lesen ihn im Vorzimmer die angehende Mathematikerin Klara und der Offizierssohn Adam (ihrerseits beide Patient*innen in der Praxis) auf. Mit ihnen bricht Hans auf in eine über 349 Seiten ausgebreitete Nacht vor der Zeitenwende, die von ihm als Zentrum ausgehend kaleidoskopartig eine Stadt im Ausnahmezustand porträtiert.
Besagtes Kaleidoskop fokussiert Existenzen quer durch die gesellschaftlichen Schichten und auch abseits historisch gut dokumentierter Lebenswelten. Dieser Weitblick gelingt der Autorin durch die Trias ihrer Protagonist*innen: Mit Hans erschreibt sie sich eine Figur, die das bäuerliche aber auch das bürgerliche Leben kennt, Adam ist Spross eines tschechischen Adelsgeschlechts und Klara ist eine akademische Aufsteigerin aus dem Lumpenproletariat. All diese Realitäten werden in ihren sprachlich kunstvoll ausgestalteten Räumen vor der Folie zeitgeschichtlicher Entwicklungen zusammengeführt, wobei vermutlich auch historisch bewandte Leser*innen sich auf teils unbekanntem Terrain wiederfinden werden, wenn etwa die Tätigkeiten feministischer Clubs, queere Lebenswelten oder (wortwörtliche) Lokale im Untergrund zur Sprache kommen. Die Autorin biedert sich in diesem groß gedachten Unterfangen keiner historisierenden Sprachverwendung an, sondern findet ihren eigenen kunstvollen Ton voller überraschender Wortschöpfungen, der ihr erzähltes Wien in seiner Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit erfahrbar werden lässt.
Dass sich Hans, Klara und Adam in dieser Dreierkonstellation vor Helene Cherechs Praxis begegnen, ist überdies kein Zufall. Alle drei sind Träger*innen einer parapsychologischen Gabe. Hans merkt, wie seine Gedanken sich unheimlich gehäuft zwischen ihm und seinen Mitmenschen (in deren Unwissen) übertragen. Adam ist Gefäß fremder Erinnerungen. Klara hat eine zentrale Rolle im sogenannten Säkulumsculster inne. Der Säkulumscluster – das ist das massenpsychologische Phänomen, dessen Erforschung sich Helene Cherech verschrieben hat. Nacht für Nacht finden sich offenbar zahlreiche Menschen, insbesondere aus den Ländern des Kaiserreichs, im immerselben Traum wieder. Alle drei also haben es mit Erfahrungen zu tun, die über ihre Individualität und leiblichen Grenzen hinausgehen. Diese Gaben genauso wie der Cluster sind Varianten des dem Titel entsprechend unfassbaren Motivs der Masse, das in »Die Inkommensurablen« vielgestaltig verhandelt wird. Die Autorin spürt ihren Ausprägungen nach, ihrem Entstehen und ihrer Anziehungskraft, ihren Bewegungen und Handlungen.
In einem beeindruckend lebendig und anschaulich erzählten Wien, zwischen Politik, Psychologie und Verweisen auf zeitgenössische Esoterik, erkundet der Roman die Dynamiken menschlicher Massenphänomene und bleibt dabei trotz unbestrittener Aktualität seinem historischen Interesse treu. Der Text funktioniert als Reflexionsmöglichkeit beider zeitlicher Ebenen wohl gerade deshalb, weil vergleichbare Entwicklungen eben nicht zeitlich oder örtlich gebunden sind. Oder, wie es Adam Hans gegenüber treffend formuliert: Man kann jeden manipulieren, mein Freund, wenn man nur die richtigen Knöpfe findet.
Sarah Auer |
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März 2023
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Thomas Cadène / Benjamin Adam: soon
Aus d. Französischen v. Ulrich Pröfrock
Lettering v. Minou Zaribaf
Hamburg: Carlsen 2020
Science Fiction. Dystopie. Utopie? Climate Fiction. Near-Future Fiction. Future History. – Die von den beiden französischen Comic-Künstlern Thomas Cadène und Benjamin Adam kreierte Graphic Novel »soon« kann mit vielerlei Labels versehen werden. Geeint werden die unterschiedlichen, ineinander verschränkten Genre- und Motivtraditionen durch ein gemeinsames Anliegen: Die Frage, wie unsere Welt in der Zukunft aussehen könnte, wie diese Zustände beschrieben werden können und wie wir in der Zukunft (genauer gesagt im Jahr 2151) wohl über unsere unmittelbare Vergangenheit sprechen werden.
In einer eindrücklichen, durchaus unkonventionellen Bild-Text-Welt entwirft »soon« ein zukünftiges Szenario, in dem Klimakatastrophen, Kriege und Pandemien zu einer Apokalypse geführt und die Menschheit auf ein Zehntel der Bevölkerung dezimiert haben. Die Übriggebliebenen leben in sieben urbanen Zentren; ihr Alltag, ihr Energieverbrauch und ihre Bewegungen werden streng reglementiert, denn die Ressourcen der Erde neigen sich dem Ende zu. Während die verschiedenen Stadtzonen in Asien, Afrika und Amerika – in Europa scheint keine nennenswerte Zivilisation überlebt zu haben – von ihrer Umgebung abgeschottet werden, dürfen die (offiziell) nicht bewohnbaren – weil entweder zerstörten/verstrahlten oder geschützten – 88 % der Erdoberfläche nur von qualifiziertem Forscher- und Arbeitspersonal betreten werden, das die Regeneration der Natur penibel überwacht. In einem für diese Zwecke eingerichteten Labor befindet sich unser Protagonist Juri in der Lehre, als er von seiner Mutter Simone in die Stadt (New Winnepeg, Nordamerika) zurückbeordert wird: Sie steht kurz vor ihrem Aufbruch zu einer Weltraummission ohne Wiederkehr, die im Rahmen des sogenannten SOON-Projekts untersuchen soll, ob die Menschheit auf dem mehrere Lichtjahre entfernten Planeten Proxima Centauri B eine Zukunft haben könnte. Ihre von Presseterminen begleitete Weltreise durch die verbliebenen Stadtzonen unternimmt Simone gemeinsam mit Juri. Dieser ist jedoch wenig interessiert an einer emotionalen Aufarbeitung der Mutter-Sohn-Beziehung, sondern erkundet stattdessen in adoleszenter Selbstbefragung und -bewährung die elternfreien Zonen der jeweiligen Stadt: Ähnlich utopischer Gattungstraditionen bereist der Protagonist die (für ihn ebenso wie für uns) fremde Welt, die wir anhand seiner Erfahrungen und Reflexionen näher kennen- und hinterfragen lernen.
Das ist ein Erzählstrang der vorliegenden Graphic Novel, der in einzelnen Episoden in unterschiedlichen Pastelltönen aufgefächert wird – und der theoretisch gesehen auch stringent als separate Erzählung gelesen werden könnte. Unterbrochen wird die fortlaufende Handlung im Jahr 2051 jedoch regelmäßig von dokumentarischen Einschüben, die historische Sachinformationen zu der erzählten Zukunftswelt liefern. Scheinen diese zunächst wie auktoriale Erzählerkommentare aus dem Off, wird bald klar, dass sich hier eine deutlich komplexere und durchdachtere Erzählkonstruktion auftut: Denn es handelt sich hierbei vielmehr um Fragmente einer Erinnerungskultur, die Juri (in unterschiedlichen Altersstufen) im Dialog mit seiner Mutter oder Freunden aushandelt. Dies geschieht stets in mediatisierter Form. Mal hilft Simone ihrem Sohn beim Lernen für eine Geschichtsprüfung – zwischen den beiden Juris Tablet, auf dem er seinen Lernstoff in einer vielverzweigten Timeline und unterschiedlichen Infografiken notiert. Mal spazieren sie durch ein interaktives Geschichtsmuseum, dessen Böden und Wände aus Panels bestehen. Die unterschiedlichen Erzählebenen (die jeweiligen Meta-Bilder und die im Gespräch befindlichen Figuren) weiß Benjamin Adam dabei stets auf geniale Weise ineinander zu verweben. Er erschafft nicht nur (detaillierte, verschachtelte) Räume in Panels, sondern platziert seine (Körper-gewordenen) Panels auch im Raum. Die Figuren wiederum bewegen sich häufig nicht innerhalb, sondern außerhalb der Panels durch das Weltall-blaue Gutter, dessen strikte geometrische Struktur mal subtil, mal gänzlich aufgebrochen wird.
»soon« zeichnet sich aber nicht nur seinen klugen, experimentellen Umgang mit seiner Seitenarchitektur aus, sondern hinterfragt auch auf gesellschaftspolitischer und philosophischer Ebene, wie aus dem Zukünftigen ebenso wie aus dem Vergangenen Sinn erzeugt werden kann. Jene Sequenzen, die retrospektiv auf unsere unmittelbare Zukunft blicken, erzählen nicht einfach linear die Historie dieser zukünftigen Welt nach, sondern hinterfragen durch ihre dialogische Struktur die autorisierte Geschichtsschreibung und zeugen so von dem Spannungsverhältnis zwischen dem kanonisierten kollektiven Gedächtnis der Zukunftswelt und alternativen Erinnerungsformen. Die dichte Struktur der Graphic Novel wird zudem immer wieder durch unterhaltsame Details aufgelockert. Beispielsweise, wenn Oprah Winfrey in Zeitungsausschnitten aus dem Jahr 2034 als US-amerikanische Präsidentin auftritt, während unter den Schlagzeilen berichtet wird, dass Donald Trump wieder einmal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Auf beeindruckend und zugleich beängstigend realistische Weise extrapolieren Thomas Cadène und Benjamin Adam in »soon« Entwicklungen unserer Gegenwart und erschaffen eine Zukunft, die uns erschreckend nahe erscheint. Während der Grippe-Pandemie im Jahr 2040 fällt der internationale Zusammenhalt auseinander, als die WHO sich außerstande sieht, eine gerechte Verteilung der Impfstoffbestände zu gewährleisten:
Als das Virus über die Welt kam, musste mangels wirklicher gemeinsamer Politik … / … jedes Land eigenständig mit den Herstellern von Impfstoffen verhandeln. / Die reichsten Länder bekamen mehr Impfstoff.
So fasst Juri vor seiner Timeline zur Gesundheitskrise > 2065 zusammen. Das vor jeglicher Berichterstattung über Covid-19 entstandene, 2019 in französischer Originalausgabe erschienene Buch wirkt heute fast prophetisch, das darin imaginierte Szenario dadurch noch ein wenig unheimlicher – aber keinesfalls weniger faszinierend, wenn es auf höchster Graphic-Novel-Kunst die Zerbrechlichkeit gleichermaßen wie die Widerstandsfähikeit der Erde und der Menschheit literarisiert.
Claudia Sackl |
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Februar 2023
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Theresia Enzensberger: Auf See
München: Hanser 2022.
Wenn sich die globalen Krisen häufen, wuchern und verdichten sich auch die (nicht nur literarischen) Erzählungen um den drohenden Zusammenfall menschlicher Ordnungssysteme. Und zwischen historischen apokalyptischen Texten und immer beunruhigenderen Ausdeutungen wissenschaftlicher Prognosen könnten Leser*innen nur allzu leicht zu dem ernüchternden Schluss kommen: Die Welt war eigentlich immer schon am Ende. In Theresia Enzensbergers neuestem Roman »Auf See« wird dieses erwartungsvolle Unbehagen als Ausgangsgefühl in eine nicht genau datierte Zukunft transponiert, die unserer Gegenwart technologisch gesehen noch vergleichsweise nahesteht. Aus (für den Anfang) zwei Perspektiven wird der Erzählraum aufgemacht, jeweils markiert durch eine Überschreibung der Kapitel mit einem Namen: Yada. Helena.
Ihre erste Begegnung machen die Leser*innen mit der 17-jährigen Yada, auf einer vor der deutschen Ostsee schwimmenden Plattform – der Seestatt. Yada ist die Tochter des als Visionär gefeierten Unternehmers, der mit diesem autarken Mikrokosmos eine Zuflucht vor immer unvorhersehbareren klimatischen Entwicklungen und einem kontinuierlichen Verfall der Staatlichkeit unter dem Druck von Großkonzernen bieten wollte. Die Ich-Erzählerin selbst ist seit zehn Jahren hier; damals wurde sie gerichtlich aus der Obhut ihrer Mutter genommen, die an einer rätselhaften psychischen Erkrankung gelitten haben soll. Hier in der Seestatt führt die Jugendliche einen privilegierten aber eintönigen Alltag, der vor allem durch einen strikten Zeitplan rund um Essensausgaben, sportliche Betätigung und Unterrichtseinheiten in naturwissenschaftlichen Fächern, Softwartechnik, Business Strategy oder Leadership Skills geprägt ist. Von den idealistischen Leitern – alles Männer, überhaupt gibt es bis auf einige Arbeiterinnen keine Frauen oder Kinder auf der Plattform – wird die Seestatt zwar immer noch als richtungsweisendes Projekt inszeniert, aber das Scheitern ist dieser baulichen Utopie in ihrer Abnützung und zunehmenden Vereinnahmung durch die Natur schon deutlich eingeschrieben:
Ich betrachtete die Algen, die in der Mulde wuchsen und sich an den Fugen entlang ausbreiteten. Winziges, sternförmiges Grün auf der gräulichen Oberfläche, ein unmerkliches, aber mächtiges Streben nach außen, nach oben. In der Ferne arbeitet der immer gleiche Rhythmus der Windräder, die wie starre Palmen am Horizont standen. In jeder Himmelsrichtung erhoben sie sich über dem Meer. Dazwischen unsere Siedlung, hermetische Waben, wellenförmiges Fiberglas, das einmal weiß geglänzt hatte und durch dessen schmutziges Grau sich jetzt feine Risse zogen.
Es ist jedoch keinesfalls eine moralisch aufgeladene Gegenüberstellung von Natur und Kultur, zu der sich die Autorin hier hinreißen lassen würde; ihr Interesse gilt vielmehr den vielfältigen Verbindungen, die Menschen auf persönlicher und gesellschaftspolitischer Ebene miteinander eingehen. Neben die in die Realität geholte Utopie der Seestatt (deren Substanz – so viel kann verraten werden – nicht nur konkret stofflich, sondern auch ideologisch porös geworden ist) werden andere Bilder von Vergemeinschaftung und Zusammenleben gestellt. Die von protokollartiger Nüchternheit geprägte Sprache Yadas steht zunächst dem Erzählstrang der Künstlerin Helena gegenüber. Helena lässt sich in dieser zunehmend unwirtlichen, spätkapitalistisch geprägten Welt ziellos durch das Berliner Szeneleben treiben. Ihren Erfolg verdankt sie einem viral gegangenen Video, in dem sie wahllos zwölf Prophezeiungen ausgesprochen hat. Wider Erwarten sind viele davon eingetreten, was ihr den Ruf eines modernen Orakels einbrachte. Und: Eine kleine, aber mächtige Fraktion hatte beschlossen, in dem Video ein Kunstwerk und in ihr eine Künstlerin zu sehen. Aus dem Erfolg des Videos heraus hat sie zu Versuchszwecken eine Sekte gegründet, deren devote Mitglieder sie fortan in um horrende Preise verkauften Portraits festhält. Ein Heilsversprechen für die Verzweifelten vor der Endzeitstimmung, für die pragmatische Helena nur eine unbedeutende Intervention in ohnehin abstrusen Gesellschaftsdynamiken.
Ob auf der Seestatt oder am Festland – Theresia Enzensberger beschreibt mit großer sprachlicher Klarheit das alltägliche Leben im permanenten Ausnahmezustand und spürt gesellschaftlichen Machtdynamiken bis in ihre privatesten Ausprägungen hinein nach. Das dabei aufgemachte Changieren zwischen Dystopie und Utopie in den Erzählungen der Protagonistinnen ist mit zwischengeschobenen Fundstücken aus einem zuerst nicht weiter zugeordneten Archiv versetzt. Es sind historische Anekdoten, die nur allzu deutlich zeigen, wie utopisch scheinende Pläne sich häufig in territoriale, wirtschaftspolitische, schlussendlich koloniale Machtansprüche auswachsen. Überhaupt scheint eine der Grundfragen des Romans zu sein, ob aus einer zutiefst kapitalistischen und auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftsordnung heraus Utopisches entstehen kann, ohne – so eine der Figuren – die Systeme radikal zu unterbrechen.
»Auf See« ist ein Text, der sich anhand individueller Geschichten entwickelt, dabei aber vor allem Fragen an kollektiv getragene Systeme stellt. So wie sich die einzelnen Erzählstränge mit der Zeit zusammenfügen, werden auch die Verstrickungen unterschiedlicher hierarchischer Strukturen offengelegt. Den Leser*innen wird dabei unbequem vor Augen geführt, wie viel diese fiktive Zukunft eigentlich jetzt schon mit ihrer Gegenwart zu tun hat. Oder, wie es im dem Roman vorangestellten Zitat aus Lord Byrons »Darkness« heißt:
I had a dream, which was not all a dream.
Sarah Auer
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Jänner 2023
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Birgit Weyhe: Rude Girl
Berlin: avant 2022.
– Vorspann –
»Darf« ein Mann eine Biografie über eine Frau verfassen? »Darf« ein weißer Schriftsteller die Texte einer afroamerikanischen Poetin übersetzen? »Darf« eine weiße Autorin über das Leben einer Schwarzen Person schreiben? Vor dem Hintergrund einer (be-)drohend heraufbeschwörten Lawine an vermeintlichen Schreib- und Sprechverboten, wird die Frage nach dem künstlerischen »Dürfen« nicht nur im medialen Diskurs gerne auf absolutierende Entscheidungsfragen zugespitzt. Neben vielen anderen Dingen wird dabei häufig übersehen, dass uns in erster Linie vielleicht nicht so sehr das »Was« der Darstellung beschäftigen sollte, sondern ihr »Wie« – und dass Kunst (und die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema/einem Gegenstand/einer Person) letztlich immer auch einen Dialog darstellt. Ein Dialog mit beidem, ihrem »Was« ebenso wie ihrem »Wie«.
– die Entstehungsgeschichte –
Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung, die sich im Spannungsfeld dieser gesellschaftlichen Fragstellungen zutrug, kreierte die renommierte deutsche Comickünstlerin Birgit Weyhe ihre neueste Publikation. Nachdem die Autorin von Büchern wie »Madgermanes« (das sich mit der Geschichte von Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik in der DDR auseinandersetzt) oder »Lebenslinien« (das die bewegten Lebensgeschichten verschiedener Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in gezeichneten Kurzbiografien sammelt; siehe >>> Lese-Tipp im April 2020) auf einer Germanistik-Tagung im Mittleren Westen der USA mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert wird, setzt sie sich mit der Frage auseinander, wovon und wie sie als weiße Frau aus Norddeutschland (die ihre Kindheit und Jugend in Kenia und Uganda verbracht hat) erzählen »darf«/kann/soll: Ich bin beleidigt. / In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben. – bringt sie ihre erste (Trotz-)Reaktion selbstkritisch auf den Punkt.
Dass alles ganz anders kommt, als hier zunächst angedeutet wird, verrät schon der Blick auf das Cover des vorliegenden neuen Buches von Birgit Weyhe: Nach der Begegnung mit der Germanistin Priscilla Layne, mehreren gegenseitigen Interviews und gemeinsamem kritischem Austausch beschließt die Birgit Weyhe einen Comic über Priscilla Layne zu verfassen. Über das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die weder weiß ist, noch mittelalt, noch aus Norddeutschland kommt. Was zunächst als ein aus 3x6 Panels bestehender Comicstip auf der Comicseite der deutschen Tageszeitung »Der Tagesspiegel« erscheint (und in dieser Form auch in das 2020 publizierte Buch »Lebenslinien« Eingang findet), wird zwei Jahre später zu einem 312 Seiten umfassenden Buch, das in durch verschiedene Songs, Musikalben und Filme aus der Populärkultur eingeleiteten Episoden die Kindheit und Jugend der in Barbados geborenen und in Chicago aufgewachsenen Germanistik-Professorin nachzeichnet.
– das Buch –
Dabei ergänzt Birgit Weyhe die aus ihrer Feder stammenden Lebensgeschichte durch eine metareflexive Ebene und bringt erstere so in einen (selbst-)kritischen Dialog mit der Biografierten: Regelmäßig werden die biografischen Episoden aus Priscilla Laynes Leben (im Text Crystal genannt) durch einfarbige Szenen in zurückgenommenem Pastellorange durchbrochen, in denen Layne das von Weyhe in einer Mischung aus Grün, Orangbraun, Schwarz und Weiß Erzählte und Gezeichnete wortwörtlich in die Hand nimmt, rezipiert, kommentiert, ergänzt und teilweise auch korrigiert. Dabei bleiben ihre Einwürfe nicht einfach isoliert von bzw. ohne Konsequenzen für den biografischen Erzählstrang, sondern nehmen direkt ebenso wie indirekt Einfluss auf diesen. So greift Birgit Weyhe die von Priscilla Layne eingebrachten Aspekte etwa immer wieder explizit auf und verändert als Antwort darauf teilweise auch ihre künstlerische Zugangsweise. Im Dialog mit der Biografierten entsteht so eine vielstimmige Graphic Novel, in der das gemeinsame Erzählen und voneinander Lernen vor eine vermeintliche Autorität von Autor*innenschaft tritt.
In »Rude Girl« werden jedoch nicht nur Themen wie kulturelle und sprachliche Zugehörigkeit auf differenzierte, vielschichtige Weise verhandelt, sondern auch so vielseitige und unterschiedliche Themenbereiche wie Geschlechterrollen, sexueller Missbrauch oder die Bedeutung von Musik und Film für die eigene Biografie auf zeichnerisch und erzählerisch innovative Weise verarbeitet. Wie Chrystal nicht nur in der in ihren Wurzeln antirassistisch und antikapitalistisch ausgerichteten Skinhead-Bewegung, sondern auch in der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur – wie etwa Franz Kafkas »Verwandlung« oder May Ayims Gedichten – ihre eigenen Zugehörigkeiten findet bzw. schafft, erkunden Birgit Weyhe und Priscilla Layne in ausdrucksstarker (Bild-)Sprache. In polyphoner Zusammenarbeit ziehen sie dabei die vielleicht oft ungeahnten, aber meist umso komplexeren und faszinierenderen Verbindungslinien zwischen vermeintlich unterschiedlichen Welten wie Chicago und Berlin, der Karibik und Europa, Franz Kafka und May Ayim nach.
– Nachspann –
»Reigen«, »Lebenslinien«, »Madgermanes« – in ihren Graphic Novels nutzt Birgit Weyhe unterschiedliche Formen des biografischen Erzählens im Comic. Mit »Rude Girl« hat sie ihren bisherigen Werken nun eine weitere neue, besondere Spielart hinzugefügt, die nicht nur etablierte Vorstellungen von dem »Was« und (vor allem) dem »Wie« von Biografien infrage stellt, sondern von der wir auch als Leser*innen mit Blick auf das »Wie« unserer Diskurs- und Diskussionskultur so einiges lernen können.
Claudia Sackl
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