Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps

 


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April 2024

 

 

Ingeborg Bachmann I Die gestundete Zeit - Salzburger Bachmann Edition
Herausgegeben von Irene Fußl. Mit einem Vorwort von Hans Höller. Enthält Fotografien und Faksimiles
  Suhrkamp 2023

Die auf ca. 20 Bände angelegte Salzburger Bachmann Edition hat wieder Zuwachs bekommen. 2022 heimste die Neuausgabe von Bachmanns »Anrufung des Großen Bären« wegen ihres ausführlichen Kommentars viel Lob ein. Nach demselben Muster, aber womöglich noch kenntnisreicher und erhellender, dabei stets gut lesbar und ohne wissenschaftliches Brimborium, sind die Erläuterungen zum jetzt erschienenen ersten Lyrikband gestaltet.

Als kleine Sensation enthalten sie einen nicht abgeschickten, bislang weitgehend unbekannten Brief an den Dichter-Geliebten Paul Celan, der beweist, dass der Nachlass immer noch ungehobene Schätze birgt. 

Mit Gedichten, die später in diesem Band abgedruckt wurden, trat die in Kärnten geborene und aufgewachsene Autorin 1952 erstmals vor der Gruppe 47 auf. Die überwiegend bundesdeutsch und männlich besetzte Schriftstellerrunde kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als eine zerbrechlich wirkende junge Österreicherin mit leiser und bald ersterbender Stimme lyrische Texte vortrug.

Da gab es rätselhafte poetische Bilder, viele davon im Zwiegespräch mit Celan entstanden, aber auch Verse mit einer klaren politischen Botschaft »Der Held bleibt den Kämpfen fern«, heißt es in »Alle Tage«, dem vielleicht meistzitierten Gedicht des Buchs, in dem Bachmann für »Tapferkeit vor dem Freund,  für den Verrat unwürdiger Geheimnisse  und die Nichtachtung  jeglichen Befehls« plädiert.

Ein »neuer Stern am deutschen Poetenhimmel« war aufgegangen, so der Kritiker Günter Blöcker. Bachmann wurde bald zur mythenumwobenen Primadonna der deutschsprachigen Literatur.

Wie sehr ihr Leben und Werk bis heute faszinieren, hat erst kürzlich der Film »Reise in die Wüste« von Margarethe von Trotta gezeigt.


*bn* Renate Langer

Der aktuelle Lese-Tipp wird in Kooperation mit dem Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, einem unserer Kooperationspartner im Fernkurs für Literatur >>> lyrikLESEN (Oktober 2023 bis Juni 2024) präsentiert!

 

 


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März 2024

 

 

Frauen I Lyrik
Gedichte in deutscher Sprache. Herausgegeben von Anna Bers
Reclam 2022

In der Regel kann ein Reclam-Heft bequem in die Manteltasche gesteckt werden, wo es sich an den Oberschenkel schmiegt und nicht weiter auffällt. Dieser Versuch ist im Falle von „Frauen I Lyrik“ zum Scheitern verurteilt: Es ist ein monströser Reclam-Riese in dem sich 1055 Seiten zu 4,5 cm Gelbheit bündeln und in dem 500 Gedichte aus einem Jahrtausend ihren Platz finden. Und es ist eine Anthologie, die sich freigestrampelt hat von der Vorstellung, dass die große und wertvolle, die kanonwürdige und durch die Jahrhunderte in Schleife rezipierte Lyrik ganz selbstverständlich aus Männerköpfen stammt. So formuliert Anna Bers, Herausgeberin der Anthologie und Literaturwissenschaftlerin an der Georg-August-Universität Göttingen, im ebenso umfassenden Nachwort:


Die Literaturgeschichte wird mindestens bis zur moderne als eine Geschichte erzählt, in der die herausragenden Orientierungsfiguren (die kanonisierten Texte […]) aber auch ihre Nachahmer, Zeitgenossen, Schüler und Epigonen männlich sind. So wird die Wechselbewegung aus Innovation und Normalisierung immer gemessen an den Erzeugnissen dieser männlichen Geschichte. (S.951)

Hiergegen arbeitet „Frauen I Lyrik“ an. Chronologisch geordnet liegen die Gedichte mit dem Öffnen des Bandes vor uns Lesenden, so können spannende Kontraste, Lücken, Brüche, Dialoge und Fragen entstehen (S.7). Und tatsächlich führt die Lektüre durch die Jahrhunderte an Verkettungen oder auch Bruchstellen entlang, etwa wenn sich Nelly Sachs „Chor der Geretteten“ eben noch mit der Bitte:


Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –
Es könnte sein, es könnte sein,
Daß wir zu Staub zerfallen –
vor euren Augen zerfallen zu Staub.

(S.562)

vor Ilse Schneider-Lengyels „Gott der Schläge“ reiht und dieser direkt in die Mitte der Geretteten die Peitsche zu schnalzen scheint:


Nicht genug /
Er teilt aus und peitschte
weitgespreizter Hand die Wogen.
Die Wasser brüllten
unter dieser Wucht.
  (S.562)

Nicht nur aus der Chronologie heraus lässt sich „Frauen I Lyrik“ erlesen; die Anthologie bietet darüber hinaus vier Perspektiven, die eine differenzierte Lektüre ermöglichen: Kanonbildung, Epochentypisches, Emanzipatorisches und die Verortung eines weiblichen Ichs beziehungsweise einer „weiblichen“ Stimme sind hier ordnungsgebend. Diese perspektivische Orientierungshilfe wird in einer Punkte-Symbolleiste abgebildet, die eine schnelle Zuordnung ermöglicht. Selbstständig an den jeweiligen Symbolleisten mitzuschreiben, dazu fordert das Vorwort auf: denn nicht alle Texte die z.B. aus der individuellen Sicht einer*eines Lesers*Leserin emanzipatorisches Potential besitzen, oder eine weibliche Sicht repräsentieren, wurden markiert. (S.11)

Ein Mitmachbuch? Zumindest eine Anthologie, die den Dialog offenhalten möchte und dabei reflektiert mit der eigenen Problematik umgeht. Denn hat es die binäre Unterscheidung in (Männer vs.) Frauen-Lyrik nötig und reproduziert sie nicht den Gedanken, dass es eine voneinander zu differenzierende männliche und weibliche Lyrik gäbe? Hiergegen setzt der horizontale Strich im Titel ein Zeichen.

Die Anthologie ist keine als Frauenbuch vermarktete Sammlung gedacht, sondern als (noch?) notwendiges Signal, das sich gegen die Tradierung qualitätvoller Lyrikproduktion und des Lyrikbetriebs als überdimensional männlich stellt. Gleichzeitig wird hier versammelt, was in Besprechungen, Buchlisten, vorangegangene Anthologien, in wissenschaftlichen Abhandlungen, Lehrwerken und nicht zuletzt Schullektüren unterrepräsentiert und nicht wahrgenommen ist: eine vielstimmige, erfrischende und rundum lesenswerte Lyrik-Auswahl. Und falls Sie sich die Frage schon gestellt haben: Ja, es sind auch männliche Stimmen vertreten – wenn diese weibliche Perspektiven in ihren Werken abzubilden versuchten.

„Frauen I Lyrik“ versteht sich nicht als abgeschlossen und versiegelt. Im Gegenteil, über den Rand hinaus verweisen die dargestellten Werke auf die Tatsache, dass Lyrik immer auch in einem engen Dialog mit ihrer Gegenwärtigkeit steht. So etwa in dem letzten angeführten Gedicht: einer Fotografie der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin, auf der Barbara Köhlers Lyrik das umstrittene Eugen Gomringer-Gedicht „avenidas“ ablöste.
Oder in Safiye Cans Antwortgedicht auf Hans Gysis „dichter“, das nun abschließend den Monat des Weltfrauentages beglänzen soll:


„Dichterinnen“

[…]
Dichterinnen schlecken Schlumpfeis
tragen übergroße Brillen
epilieren sich die Beine
und rauchen Gras.

Sie schreiben in der U-Bahn
sie schreiben in der S-Bahn
sie schreiben auf der Rolltreppe
sie schreiben beim Gehen
sie schreiben in der Badewanne.
Wenn sie nicht schreiben,
denken sie nach:

[…]
Dichterinnen sind unbeliebt
im Finanzamt
Dichterinnen werden beweint
wenn sie tot sind
und nicht mehr dichten
lang leben die Dichterinnen!

(S. 740)

Iris Gassenbauer


 


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Februar 2024

 

 

 

Verena Rossbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen.
Kiepenheuer & Witsch 2022

Zuerst knackt der Zartbitterschokoladenmantel unter den Schneidezähnen, dann verteilt sich der Likör samt „Piemont“-Kirsche über die Zunge und hinterlässt ein sanftes, warmes Kribbeln hinter dem Brustkorb. Und auch, wenn kein Mensch bisher an einem Piemontkirschenbaum vorbeigekommen wäre (dabei müsste es bei 130 Millionen Kilogramm verzehrter Pralinen pro Jahr doch ganze Urwälder davon geben!), löst Mon Chéri im Gegensatz zum leistungssteigerungsorientierten Mutterkonzern-Bruder Pocket Coffee die nostalgisch verwaschene Vorstellung von Italo-Hügeln und mondäne Romantik aus.

Geschmacksknospen auf salzig und süß

Mon Chéri, dieses süßklebrige Wunderding der Sechziger, stellt nicht nur einen erheblichen Bestandteil des Speiseplans der Anfangsvierzigerin und Protagonistin Charly Benz in Verena Rossbachers Roman dar, sondern wird auch titelgebend. Wie die Likörpraline allerdings mit demolierten Seelen zusammenpasst, eröffnet sich erst nach und nach in einem Roman, der auf über fünfhundert Seiten sämtliche Gefühlsregister zu bespielen weiß.

Aber zurück zu Charly Benz, dieser verschusselten Schweizerin, die es nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hat, wo sie Werbung für vegane Müsliriegel und andere Klimakatastrophenverhinderungen bei LuckyLili fabriziert und sich trotz aller brillant erdachter Marketing-Strategien vor ihren jüngeren Kolleg*innen ungewollt als Dinosaurier outet, der sich nicht in der schillerndschnellebigen Welt der Instagram- und Tiktok-Trends daheim fühlt.

Das Duckface wird zum Lippenbekenntnis der Unwissenheit, während Charly Benz selbst als textsichere Werbeslogansrezitatorin der 80er und 90er fungiert. Begleitet wird der Monolog der Protagonistin von einem Soundtrack, der ihr köstliches Psychogramm für die Lesenden mit Fußzeilen zu ihrer popkulturellen Verortung erweitert, denn die Musik hatte immer schon eine direkte Auswirkung auf ihr Verlieben. Und auch das Mixtape, das sie der Jugendliebe Dragaschnig damals als verschossene Teenagerin anonym bis auf den aufreizenden Hinweis: Let’s spend the night together. C. (S.312) zugesteckt hatte, taucht an späterer Stelle wieder auf, als besagter Dragaschnig die Kassette samt extra hierfür beschafftem Kassettenrekorder zur Aktion bringt. So erfüllt sich Jahre später mit musikalischer Untermalung der Plan der pubertären Charly:

Ich hatte damals gedacht: Ich liebe den Dragaschnig und  der Dragaschnig liebt mich, und wenn er mich noch nicht ganz so fest liebt, wie ich ihn, dann tut er es, nachdem er meine Mixtapes gehört hat. (S.312).

Gleichzeitig strudelt das Leben der Charly Benz in Richtungen, wohin es die äußeren Einflüsse lenken. Weil das Briefe-Öffnen zur unerträglichen Belastungsprobe wird, wird der Dienst des Postengels Schabowski – Verzeihung – Herrn Schabowski in Anspruch genommen und etwas Struktur in dem kreativen Durcheinander aus Feiertagszigaretten, Notfallssilvesterfeiern und dysfunktionalen Fahrrädern als Quasitransportmittel der Wahl installiert. Bis, ja bis auch hier das Unerwartete einbricht, das hinter jeder Ecke des Lebensweges lauert: Schabowski ist krank, soviel darf gespoilert werden, richtig krank.
Und Charly Benz ist bereit, an der Seite des Postengels Klangschalentherapien und Aufmerksamkeitsmeditationen zu durchsitzen, Räucherstäbchenduft und Nikotinkaugummis inklusive.

Gipfelstürmer und die Erbschaft der Vergangenheit

Dann aber sind neben Herrn Schabowski noch andere Männer im Leben der Charly Benz, die gegen den Routinenalltag wirken und in der Form einer verschwärmten Jugendliebe (der Dragoschnig), eines Kulturjournalisten (Hans Hänse Quandt) und eines Akademikernachbarn (Mo Gabler) ihren Auftritt haben. Und natürlich ist da auch der Don, der Vater, der geht und kommt wie es ihm beliebt und der schlussendlich ganz verschwindet und nicht mehr zurückkehrt, weil er aus dem Leben scheidet – der zweite (und – versprochen – letzte) Spoiler dieser mitteilungsbedürftigen Rezension. Sie alle werden zu Platzhaltern in der Familienaufstellung, dieser therapeutischen Planlegung, die doch eigentlich die wahre Basis des Romans zu sein scheint. Denn im ewigen Versuch, zu durchblicken, welche Ansprüche das Leben an uns stellt, wechseln Familienmitglieder und Platzhalter ihre Positionen und sorgen für immer neue Voraussetzungen.

So mischt sich schließlich Bad Gastein ins Dreiländereck der Lebensmittelpunkte der Protagonistin und mit ihm ein vererbtes Hotel, abgehalftert und nur noch ein Nachhall jener Belle Époque, die früher einmal den Kurort in Salzburg geprägt hatte.

Dorthin, wo verschlungenerweise auch die Wurzeln des Dons liegen, verlagert sich schließlich auch die Handlung; ein Abwandern im großen Stil, denn nicht nur Charly Benz und ihr Postengel landen in der österreichischen Bergwelt, die erweiterte Familie samt Männerverstrudelungen und der in Charly Benz heranwachsenden Auswirkung findet sich ein.

Was dort geschieht?
Superlativen natürlich. Es wird auf das Leben gewartet. Und auf den Tod. Auf das Kommen und das Gehen.

Die Kunst der Hyperbel

Wie es Verena Rossbacher gelingt, einen Roman zu komponieren, der in seiner Vielschichtigkeit nicht in unerträglicher Handlungsüberladung endet, ist ihrer Erzählkunst zu verdanken. Während nämlich auf der einen Seite die Ereignisse einander ebenso nachhasten, wie Namen und Figuren auf die Lesenden losgelassen werden, bleibt alles durch die Ich-Erzählerin ein organischer Bestandteil der erzählten Lebensrealität.
Auf diese Weise sind wir geneigt, die Grillen zu akzeptieren, die die Protagonistin über Andere offenbart oder auch ihrem eigenen Ausufern mit Neugierde zu folgen. Dieses Ausufern wird natürlich durch den Postengel Herrn Schabowski entlarvt und thematisiert, bevor Literaturkritiker*innen zum Schachzug kommen könnten:


„Meine Liebe, ich muss Sie einmal mehr darauf hinweisen, dass Sie übertreiben – wirklich, Sie überzeichnen sich -. Was soll das bringen, dass Sie sich selbst immer wieder darstellen, als wären Sie die Protagonistin einer schlechten Sitcom?“ (S.167)


Charly Benz übernimmt die Verteidigung selbst in diesem Roman, der die Gedanken seiner Hauptfigur generös ausbreitet und bei einem Hang zur Oralität mitunter an Erzählerfiguren wie aus Wolfs Haas‘ Brenner-Romanen gemahnt. An dieser Stelle aber beruhigt sich die Protagonistin und ihr Erzählfluss siedet auf umsichtige Reflexion zusammen:


Kann schon sein, Herr Schabowski, kann schon sein, dass ich da und dort ein bisschen übertreibe, aber es ist doch so: Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass ein Mann mit ähnlich zerpflücktem Äußeren wie ich durchaus eine gewisse charmante Attraktivität entfalten kann, man schließt aus den zahlreichen Kalamitäten auf eine gute Portion Humor und das ist schön, denn vor einem Mann mit Humor muss man sich nicht fürchten und hat viel Spaß. Interessanterweise nützt einer schönen Frau Humor überhaupt nichts, vermutlich, weil er der natürliche Feind der Anmut ist. Und das war haargenau mein Problem.“ (S. 167f.)

Stimmt es, dass es Charly Benz an charmanter Attraktivität fehlt? Das liegt am Ende wohl in den Augen der Leser*innen. Vielleicht ist sie den einen zu laut und schräg, den anderen zu mühsam, wenn sie vier narrative Umwege samt Ehrenrunden nimmt, bevor wir (und mit uns Hans Hänse Quandt) endlich erfahren, warum sie bei Stichwort Leonard Cohen an ihre Tante Vivienne denken muss.

Dann aber wieder perlen aus dem Erzählstrom der Protagonistin Erlebnisse und Gefühle, die einen komplexen Charakter mit narrativem Fleisch füllen und dabei zwischen Humor und Ernsthaftigkeit changieren, zwischen dem Begrüßen des neuen Lebens und dem Akzeptieren der Tatsache, dass am Ende eben das Ende steht.
Große Themen in leichtfüßige Schwere gewebt, eingepackt in das rosa Stanniolpapier der Mon Chéri Pralinen.

Der Nachgeschmack ist warm und zartbittersüß.

 

Iris Gassenbauer


 
   

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Jänner 2024

 

 

Rudolf Bischof; Klaus Gasperi: Weil wir im Herzen barfuß sind. Ein Lesebuch zu Advent und Weihnachten.
Tyrolia 2023

Zum Jahresende hin werden die Tage kürzer. Nicht nur, was die Tageslichtstunden angeht, die bis zum 21. Dezember mehr und mehr zusammensieden, bis sie sich dann in einer gemütlichen Kehrtwende wieder auszudehnen beginnen. Das Endjahr scheint es eilig zu haben. Vor Weihnachten muss noch eine lange Liste an Aufgaben abgearbeitet werden. Bekannte müssen getroffen, Karten geschrieben, Rechnungen beglichen, Einkäufe getätigt, Wäsche gewaschen und wieder abgenommen werden.


Die Dringlichkeit der letzten Tage kulminiert dann in den oft nur dem Hörensagen nach stillen und besinnlichen Weihnachtstagen, die durch den logistischen Aufwand gestundet sind, sowohl die eine, als auch die andere Familie zu besuchen, das Rotkraut auf den Punkt zu garen und gleichzeitig den Panettone bei der Mitzi-Tante samt einem hektischen Kuss auf deren Wange abzuliefern, bevor der Sternspritzerabend Nostalgie wecken soll. Wer nach dem Stefanietag noch Kraft hat, schafft es aus dem Bett auf die Couch und macht es sich dort mit frisch geschenkter Lektüre und der halb geleerten Keksdose vom Nachbarn gemütlich. Weil aber bei vielen nach den Feiertagen die Batterien erst mal leer sind und sie geduldig wieder für ein letztes Aufbäumen geladen werden müssen, das für kulinarische Durchhaltigkeit beim Silvesterfondue, 12-minütiger Donauwalzertanzeinlage und dem folgetäglichen Mitklatschen beim live übertragenen Radetzkymarsch sorgt, bleibt zwischen den Jahren wenig Zeit für stilles und intensives Lesen.


Wir haben deswegen einen besonderen Lesetipp für Sie mit ins neue Jahr genommen und hoffen, dass nun die kalten Jännerstunden dafür geeignet sind, den berührenden, poetischen und spirituellen Texten nachzufühlen, die der Seelsorger Rudolf Bischof und der Theologe Klaus Gasperi zusammengestellt haben.


„Weil wir im Herzen barfuß sind“ zelebriert nicht nur die Weihnachtszeit und den Advent, auch wenn die Textsammlung, die nun nach über 20 Jahren zum ersten Mal als ästhetisch ansprechendes Hardcover bei Tyrolia aufgelegt wurde, dies im Titelzusatz nahelegt. Es sind die stillen Stunden und die Stunden des Besinnens und des Hoffens, die hier literarisch durchleuchtet werden und die – jede für sich – Raum fordern für das Einbringen eigener Gedanken.


Immer noch finden Menschen das Glück im Kleinen und Unvermuteten. […] Das ist der Grund, warum wir es wagen, in diesem Buch Geschichten und Texte anzubieten, die vorerst nichts mit Nostalgie und Romantik zu tun haben, die aber aufmuntern zu suchen zu finden, lassen uns die Herausgeber im Vorwort wissen (S.10), und reihen als erste Gedicht „Der Stern“ der Wiener Lyrikerin und Kinderbuchautorin Christine Busta.


Nachts erwachen und mit herrlichem Erschrecken
hell im Fenster einen Stern entdecken
und um ihn die sichre Angst verlassen,
wie Kolumbus nach dem Steuer fassen,
und gehorsam wie aus Morgenland die Weisen
durch die Wüste in die Armut reisen,
und im Stern des Engels Antlitz schauern:
wie ein Hirt zu Bethlehem vertrauen.

(S. 13)


Viele Sterne sind noch zu entdecken in diesem Lesebuch, das dazu einlädt, es nach jedem gelesenen Text zu schließen und zufällig an einer anderen Stelle zu öffnen. Denn in ihrer Verschiedenheit hängen sie doch eng zusammen, die Texte, die von Ernüchterung und Verfolgung, von Bedrängnis und Angst erzählen und dabei nicht auf die Hoffnung vergessen.


Du brauchst Gott
weder hier
noch dort
zu suchen.
Er ist nicht ferner
als vor der Tür des Herzens.
 

(S. 69)


Diese Zeilen stammen von Meister Eckhart, der zwischen Augustinus und Eligius Leclerc ebenso im Lesebuch anzutreffen ist, wie Hilde Domin, Else Lasker-Schüler oder Selma Lagerlöf. Es sind die (gar nicht) stillen Stunden der Weihnachtstage, die im Lesebuch zwischen Licht und Finsternis changieren, die gleichzeitig bedrücken und ermuntern dazu, Hoffnung zu fassen. Ergänzt werden sie von Lyrik und Prosa, die artverwand in die Sammlung passt – hier darf voll und ganz auf Rudolf Bischofs und Klaus Gasperis bedächtigen Auswahlprozess vertraut werden. Die Neuauflage des Lesebuchs, das die letzten Jahre über auch in zweiter Auflage vergriffen war, füllt somit eine Lücke der wohltuenden Multiperspektivität und der Mehrstimmigkeit.
So lässt unser Lesetipp auch Worte des Sufismus erklingen, die ihre Aktualität über die Tage des Advents und der Weihnachten hinaus nicht verlieren und die hier abschließend zitiert werden solle:


Schreibe das Unrecht,
das man dir antut,
in den Sand,
doch schreibe das Gute,
das dir widerfährt,
auf marmorne Tafeln.
Lass alle Gefühle wie Groll
und den Wunsch nach Vergeltung fahren,
sie schwächen dich nur,
doch halte fest an Gefühlen
wie Dankbarkeit und Freude,
die dich stärken.

(S.171)

Iris Gassenbauer


 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Dezember 2023

 

 

Michael Hammerschmid: stopptanzstill. Wiener Tier Figuren Gedichte.
Picus und Wien Museum 2023

Die Wiedereröffnung des Wien Museums am Karlsplatz lenkt den Blick zuallererst auf die architektonisch faszinierende Verbindung von Alt und Neu: Der neue Betonblock scheint aus der Mitte des historischen Gebäudes herauszuwachsen und legt sich als schwebende Konstruktion über den Bau von Oswald Haerdtl.

Die Symbiose stellt eine transparente Fuge her, sodass die beiden Teile einander nicht zu berühren scheinen und dennoch miteinander verbunden sind. Dieses Konzept des Architektenteams Čertov und Winkler + Ruck spiegelt sich leitmotivisch in einem Gedichtband wider, der – an Kinder adressiert und damit natürlich ein All Ager – zur Wiedereröffnung des Wien Museums erschienen ist: Der Lyriker Michael Hammerschmid geht von Ausstellungsobjekten des Museums gleichermaßen wie Figuren und Skulpturen des Wiener Stadtbilds aus und stellt in Gedichtform eine Symbiose zwischen kunstgeschichtlichem Körper und Textkörper her.

Mittig gesetzt mutet den Gedichten ein schwebender Charakter an, wenn sie bildlich je Doppelseite gemeinsam mit jenem bild- oder skulpturhaften Wesen präsentiert werden, auf die der Text reagiert. Und damit eine spezifische Variante der Ekphrasis inszeniert.

„und meine lamellenborten horten die zeit
die in mir klingt wenn das kind in mir singt“

Es ist der in seiner Körperlichkeit üppige Wal aus Kupferblech vom Gasthaus „Zum Walfisch“ im Prater, der seinen Weg als Blickfang in die Eröffnungsausstellung gefunden hat, aus dessen Perspektive das lyrische Ich hier die Brücke über Seiten und Zeiten schlägt: Aus dem Jahr 1951 stammend, ist der Wal das einzige der Tiere, das mehr Platz für sich beansprucht als nur eine Doppelseite.

Denn ja, es sind allesamt Tierfiguren, von denen Michael Hammerschmid ausgeht – und damit einen Kontrapunkt zu seinem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Gedichtband „wer als erster“ setzt. Dort war es der Versuch, Kinderlyrik (auch) jenseits des beliebten Tiergedichts zu erproben. Und nicht zuletzt Illustratorin María José de Telleria, die in ihren Illustrationen Michael Hammerschmids Sprach- in Tierbilder transformiert hat.

Nun sind es Tierfiguren unterschiedlichster Machart, die im Fokus der Text-Assoziationen stehen: Bronze-Figürchen, Mosaike, Wasserspeier, Brunnentiere, Graffitti – sie alle werden in ihrer Materialität mit sprachlichen Mitteln durchdrungen:

„wirf ihnen etwas zu
ein stöckchen aus buchstaben
ein hölzchen aus lauten
einen knochen aus sonnen-
gewärmten heruntergefallenen
sternsilben, wenn du mal welche
findest. dann lachen sie nämlich“

Ein chinesisches Monster aus Stein von der Westfassade des Stephansdoms ist es, das hier unter dem lyrischen Motto „es wird schon gelingen“ aus der Monstrosität befreit werden soll und damit auch den Charakter der Gedichte spiegelt. Sie allesamt verweigern das Liebliche, brechen Sprachrhythmen, irritieren in ihren Zeilenumbrüchen und offenbaren gleichzeitig in ihrer zauber-haften Begrifflichkeit die verborgenen Geheimnisse der Tierfiguren in all ihrer variantenreichen Beschaffenheit. Der Reim wird dabei zurückhaltend und dennoch effektvoll eingesetzt:

„doch jetzt!
ruhe bitte
um was geht
es da? die sieben
zerstieben nicht
fürs foto halten
sie: stopptanz-
still und das ist
für so quasselraben
zeitlich schon viel“

Das Keramikrelief aus der Amortgasse birgt Märchenanleihen, die wie an zahlreichen anderen Stellen des Bandes gleichermaßen wie andere kulturgeschichtliche Aspekte aufgegriffen werden. Und dennoch verweigern sich die Gedichte dem Sagen-haften; vielmehr referieren sie auf die Dynamik der Tierkörper, auf deren Oberflächen gleichermaßen wie die dahinter verborgenen Geheimnisse und Geschichten. Während im Anhang die Kunstgegenstände des Stadtalltags auch in ihrer tier-mythischen Bedeutung verortet werden, erforschen die Gedichte das Unerforschte:

„wohnst du hier?
die den anderen wesen
bist du schon mal
lustig gewesen?“

Es sind eingefangene Momente, in denen die Fantasie zur Fuge zwischen Kunstgegenstand und Sprachkunst wird – ganz so wie jenes Geschoß im neuen Museumsgebäude, das als Glasbau den Blick auf die Stadt freigeben wird. Und damit das Innen und das Außen miteinander verbindet – die Ausstellungsgegenstände und die Tier-Figurationen im öffentlichen Raum. Beide können erkundet werden. Beide sind in diesem Band mit viel Humor erkundet worden:

„es fliegt und fliegt
und fliegt schau hin
als knochen!
und hält
die fledermäuseohren
offen
ich find das so was von
besoffen“

Heidi Lexe

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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November 2023

 

 

Die aktuellen Lese-Tipps werden auch in Kooperation mit dem Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, einem unserer Kooperationspartner im Fernkurs für Literatur >>> lyrikLESEN (Oktober 2023 bis Juni 2024) präsentiert:

Sarah Crossan: Toffee

Hanser 2023

Mit der Erinnerung verschwinden wir.
Nicht nur mit der Erinnerung an uns, auch mit der Erinnerung in uns.

Dabei sind Erinnerungen etwas Seltsames. Sie sind die Rexgläser, in die wir das Vergangene gestopft haben; klein geschnitten, mit Essig übergossen und eigenen Gewürzen abgeschmeckt.
Manche Gläser werden Jahre später wieder aus der Speisekammer geholt und mehr oder weniger genussvoll ausgelöffelt, manche sind undicht geworden und zur Hälfte verdampft. Wieder andere sind im Regal ganz nach hinten gerutscht und bleiben dort wohl unentdeckt.

Marlas Vorrat an eingerexten Erinnerungen ist auf einige wenige Gläschen zusammengeschrumpft. So vergisst sie, wo das Salz steht. Oder sie vergisst, dass nicht mehr alle Familienmitglieder am Leben sind. An besonderen Tagen vergisst sie aber auch, dass sie alt ist und alleine in einem zu großen Haus mit zu vielen Dingen lebt. Dann ist sie wieder die sprudelnde, tanzhungrige, junge Frau, die Mami nicht um Erlaubnis bitten will, um Jungs treffen zu dürfen. Marla wohnt in den Schichten der Zeit, die sich um sie gestapelt haben. Jeden Tag und jede Stunde in einer anderen. Und während Marla zwischen Erinnern und Vergessen ihre Realitäten durchlebt, dringt da ein neuer Mensch in ihre Gartenhütte, ihr Haus und schließlich ihr Leben ein.

Allison will den Vergangenheitsspuren, die sich als Bügeleisenabdruck in ihrem Gesicht manifestiert haben, davonlaufen. Will das Geschehene aus ihrem Leben streichen und die Wohligkeit einer stabilen Umgebung einatmen können.

In Marlas Haus mit den vielen Dingen findet sie eine Bleibe. Und Marla findet in der 15-jährigen Allison mit den Vergangenheitsspuren ihre Jugendfreundin Toffee.

Wie es von da an weitergeht?
Es liegt die Schuld der Erzählenden eng an dem Wunsch, etwas besser zu machen. Allison wird zur Wohnungsbesetzerin und zur Sorgenden, zur Freundin und zum Fremdkörper, der je nach Zeitschicht Geborgenheit oder Angst in der alten Frau auslöst.

Sie wird aber vor allem zu einem: Zur Füllmenge im Leben einer Frau, deren Existenz nach und nach zur Leerstelle gerät.
Und dann ist da noch die besondere Form.

Aber reicht es,
Text allein
durch Formatierungskniffe
in die Poesie zu schmeicheln?

Nicht in allen literarischen Beispielen – deren Zahl in den letzten Jahren erfreulicherweise anstieg – gelingt die Übung. Oft dann nicht, wenn aus der Ursprungssprache heraus übersetzt wird. Aber dass es sich bei »Toffee« um einen Versroman handelt, macht das Lesen nach den ersten blocksatzverwöhnten Irritationen bald zur formvollendeten Lektüreerfahrung. Formatierung und Inhalt rhythmisieren sich, verlebendigen die oft knappen Regungen und Gedanken der Ich-Erzählerin und brillieren in der Übersetzung durch Beate Schäfer. So werden auch die ganz großen seelischen Brüche in Allisons Erzählen in stimmstarke Minimalismen gepackt:

Alles, was Dad sagte, war mir ein Rätsel –
Leerstellen ... und Andeutungen, sich kreuzende Wörter
[...]
Die Lösungen waren nie klar.
Im Kreuzworträtseln bin ich gut.
Aber meinen Vater habe ich nie verstanden
. (S. 83)

Vergessen und erinnern, Rexgläser oder leere Regale – beide Frauen changieren auf ihre Weisen zwischen Identitäten und zwischen dem Willen, das Erlebte zu bewahren, zu verändern oder ganz hinter sich zu lassen. So steht die Ohnmacht des Vergessens gleich neben dem Vergessen als gefühlsnivellierender Bewältigungsstrategie und bringt Gänsehautsätze mit sich:

Manchmal vergaß ich, dass mein Vater war, wie er war,
und deshalb hatte ich ihn lieb.
(S. 134)

Die Vaterfigur als unbeherrschter Brutalo, als bemitleidenswerte Täterfigur, die auf Frust nur mit Gewalt zu antworten im Stande ist, ist der Hort der Verunsicherung und der (auch körperlichen) Qualen, die Allison mit sich davon und in Marlas Haus trägt. Schlussendlich ist ihr Vergessen nur ein zwischenzeitliches; den Vater wieder lieb zu haben und dabei wiedergeliebt zu werden, liefe der Erzählung gegen den Strich. Und auch Marlas Verlust des Erlebten, die Nichtbereitschaft des Sohnes zur Beschäftigung mit der demenzkranken Mutter, die Aussichtslosigkeit, wieder als selbstbestimmter und vertrauensvoller Mensch wahrgenommen zu werden, sind Bausteine einer Narration, die sich nicht um Beschönigungen schert.

Sarah Crossan verteilt keine Happy Ends, streut nicht einmal Hoffnung aus vollen Taschen. Aber dennoch wärmt der Rest an Zuversicht, der über die letzte Seite hinweg hinauserzählt und uns mit dem bittersüßen Geschmack nach ROSINENBRÖTCHEN zurücklässt.

Knirschende Teigkruste,
saftige Rosinen,
geschmolzene Butter,
alles mischt sich
in meinem Mund.
Noch nie habe ich
etwas Köstlicheres
[gegessen]
(S. 34)

gelesen.

 

Iris Gassenbauer

 

www.biblio.at

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Oktober 2023

 

 

Die aktuellen Lese-Tipps werden in Kooperation mit dem Österreichischen Bibliothekswerk in Salzburg, einem unserer Kooperationspartner im Fernkurs für Literatur >>> lyrikLESEN (Oktober 2023 bis Juni 2024) präsentiert:

 

Sabine Gruber: Am besten lebe ich ausgedacht. Journalgedichte
Haymon 2022

Die 1963 in Meran geborene Sabine Gruber lebt heute, nach einigen Jahren Unterrichtstätigkeit an der Venediger Universität, als freischaffende Schriftstellerin in Wien. Sie hat für ihr literarisches Schaffen, das Romane, Lyrik, Erzählungen, Theaterstücke und Essays umfasst, bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Für ihr neuestes Werk hat Gruber 44 »Journalgedichte« zusammen-
getragen, in denen ein lyrisches Ich über den Abschied, das Bewahren und das (Wieder-)Anfangen reflektiert und dabei auf reichlich gesammelte Erfahrungen und Verluste zurückblicken kann: Meine Lebensmänner / Sind alle tot, der Körper ist längst / Nicht mehr im Lot.

Implizit schwingen in den Texten Gedanken über die Endlichkeit des eigenen Daseins und Handelns mit – sie spiegeln sich sogar in Reflexionen über den Prozess des Schreibens und Verwerfens wider: Du aber / Bist im Zerknüllten, im Knitterland / Tot. Beeindruckend ist die Intensität, mit der das Ankämpfen gegen das Vergessen und die Vehemenz des Erinnerns an Orte, Gegenstände, Gerüche und Bilder geschildert wird. Diese Polarität resultiert in einem seltsamen Zweiklang aus dichterischer Traurigkeit und Zuversicht: Schreiben / Um zu lieben, wenn kein Sprechen mehr hilft. Der Titel »Am besten lebe ich ausgedacht« drückt damit zugleich Resignation und steten Neubeginn aus.

In merkwürdigem Kontrast zur Sensibilität der Sprache in den Texten steht ihre strenge Form: Jedes Gedicht umfasst exakt 20 Zeilen. Die zahlreichen Enjambements dürften daher eher der Einhaltung des durchgehenden Schemas als einer lyrischen Funktion geschuldet sein, wobei der Zweck dieser mechanischen Diszipliniertheit nur zu erahnen bleibt.

*bn* Simone Klein

 

Christoph W. Bauer: an den hunden erkennst du die zeiten. gedichte
Haymon 2022

Der bereits vielfach ausgezeichnete Dichter hat den ersten Zyklus seines Gedichtbands ganz zurecht mit »Cave canem« betitelt: Hüte dich vor dem Hund! Denn Bauer versteht es zu knurren, zu bellen und gelegentlich auch zuzuschnappen. Dies nicht ohne Humor, etwa wenn er den experten für alles in lärmigen zeiten empfiehlt, sich einzugestehen: allemal ich habe keine ahnung aber davon viel. Auch wenn Bauer in Vergangenem, Gegenwärtigem und geografisch weitläufig herumstreunt – von Wattens bis ans Meer bei Trapezunt, ins antike Caesarea und zurück in die Wachau – so karikiert er vor allem den Zeitgeist. Insbesondere die Kunst- und Expert*innenwelt ist nicht sicher vor seinen Bemerkungen.

Bauers Gedichte, in seiner eigenen witzigen Diktion viel Weißraum, der das bisschen Text umgibt, sind in der Tat das Resultat meisterhafter und maximaler sprachlicher Verdichtung. Auch hier gilt: Cave canem! Hüte Dich, denn seine Gedichte sind trotz allen Humors auch Verdichtungen wider die allseits so beliebte Niederschwelligkeit und wollen aktiv erarbeitet werden. Das geht unter anderem aus den vielen doppelsinnigen Enjambements hervor.

Lässt man sich auf eine aktive Lektüre ein, wird der schmale Band zu einem bereichernden Erlebnis!

*bn* Simone Klein

 

www.biblio.at

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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September 2023

 

 

Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. (Hg.): Ihr habt da was vergessen … Frauengeschichte sichtbar machen.
Leipzig 2022.

Frauen haben schon immer die Gesellschaft geprägt […] und […] Spuren in der Geschichte hinterlassen […] – wir müssen sie nur von dem Staub der Unterdrückung befreien und anfangen, von ihnen zu erzählen.

Von vergessenen – oder besser: aus der Erinnerung und Geschichts-
schreibung (bewusst oder unbewusst) ausgesparten – Frauen, die im 19. und 20. Jahrhundert das Leben in Leipzig und Sachsen geprägt haben, erzählt jenes Leseheft, das im vergangenen Jahr von der
>>> Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V.
herausgegeben wurde. Produziert wurde das Heft vom >>> fem/pulse-Team der in Leipzig ansässigen Gesellschaft, das es sich zum Ziel gesetzt hat, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen feministische Impulse zu setzen, indem es sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen* [1] – heute sowie in der Geschichte – einsetzt. Auf 46 äußerst lesenswerten Seiten werden in dem auch optisch sehr ansprechend gestalteten Heft elf Frauen vorgestellt, die sich im Laufe der vergangenen 200 Jahre in Leipzig (und darüber hinaus) für gesellschaftliche Veränderungen und die Gleichberechtigung von Frauen* eingesetzt haben und die in unserer – männlichen geprägten – öffentlichen Erinnerungskultur oft nicht oder zu wenig beachtet werden.

Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, Sportlerinnen und Aktivistinnen, Arbeiterinnen und Wissenschaftlerinnen – die in dem Leseheft porträtierten Frauen haben vielfältige Leben gelebt und sich in vielfachen Bereichen (von Arbeit und Sport über Körper und Sexualität bis hin zu Kunst und Politik) für Frauenrechte und Emanzipation engagiert. So etwa die Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin und Frauenpolitikerin, die der Gesellschaft ihren Namen gab: Tatsächlich ist das Wirken von Louise Otto-Peters so vielseitig, dass es kaum in ein paar Sätzen zusammengefasst werden kann. 1849 – in einer Zeit, in der es Frauen verboten wurde, Zeitungen herauszubringen – gründete sie etwa eine »Frauen-Zeitung«, in der sie schon früh das Grundsatzprogramm der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung ausformulierte. Weitere der im Heft vorgestellten Frauen sind etwa die Autorinnen Auguste Schmidt und Elsa Asenijeff, die Künstlerinnen Käthe Kollwitz und Gerda Taro, die Widerstandskämpferin Maria Grollmuss, die Juristin Elsa Hermann oder die Ärztin und Sexualwissenschaftlerin Lykke Aresin.

Jeder Frau wird dabei eine Doppelseite gewidmet, auf der zentrale Informationen zur Person zusammengefasst werden und Beispiele aus ihren jeweiligen Arbeiten präsentiert werden. Oftmals handelt es sich dabei um Textausschnitte aus politischen Reden, wissenschaftlichen Beiträgen oder literarischen Publikationen; an anderer Stelle wiederum sind es Fotografien, Gemälde oder Plakate, die Einblick in das Schaffen der – stets auch fotografisch ins Bild gesetzten – Frauen geben. Ergänzt werden diese kurzweiligen Vorstellungen durch Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit den Porträtierten und ihren jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontexten. Diese beinhalten nicht nur konkrete Fragen, Denkimpulse und Ideen für Arbeitsaufträge, sondern stellen auch Hinweise zu weiterführenden Quellen bereit – was das Heft zu einem idealen Arbeitsmaterial für Schule und Bildung macht.

Es ist eine differenzierte gesellschafts- ebenso wie selbstkritische Perspektive, die die Verfasserinnen Pina Bock, Nane Pleger und Katharina Wolf in ihrem Leseheft einnehmen. Dabei zeigen sie nicht nur, wie ein eindimensionaler Blick auf [Geschichte und] Geschichtsschreibung die Sicht auf das Schaffen und die Kämpfe vieler Frauen* oftmals einschränkt oder gar versperrt, sondern schreiben auch gemeinsam gegen das Vergessen und gegen das »Ent_Innern« [2] dieser Frauen und ihrer Geschichten an. Dies tun sie aus einer bewusst gesetzten intersektionalen Perspektive, die das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen wie Sexismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus berücksichtigt. Für manche sperrig klingende Konzepte wie »Intersektionalität« werden dabei ebenso anschaulich wie praxisorientiert erläutert und konsequent in die Darstellungen integriert. So geht das Heft etwa auch auf die Unterschiede in den Kämpfen und Anliegen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung ein – und zeigt auf, dass die in der Leipziger Arbeiter*innenbewegung engagierte Clara Zetkin mit ihrer Beschreibung der doppelten Unfreiheit der Proletarierin schon früh – ja, tatsächlich avant le lettre – Konzepte wie Intersektionalität gedacht und gelebt hat.

Dem Umstand, dass Frauen* oft doppelt (und mehrfach) benachteiligt werden und daher auch oft aus der Erinnerung doppelt [und mehrfach] heraus[fallen], tragen die Verfasserinnen aber nicht nur in den von ihnen vorgestellten Frauenporträts Rechnung, sondern auch wenn sie am Ende des Heftes die nach wie vor bestehenden blinden Flecken in unserer Erinnerung sichtbar machen. Die letzte Doppelseite wird leer gelassen – und spiegelt so die weißen Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses wieder: Während etwa Schwarze Frauen das gesellschaftliche Leben im 19. und 20. Jahrhundert sicherlich mitgeprägt haben, wissen wir nach wie vor zu wenig über die Geschichte nicht-weißer Frauen* in Leipzig (sowie aus vielen anderen Regionen Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz). Daher werden an dieser Stelle auch die Leser*innen des Hefts dazu eingeladen, ihr eigenes Wissen in den Dialog einzubringen, sich einzumischen, bestehende Leerstellen mithilfe von geteiltem Wissen zu schließen – und so gemeinsam die Geschichten von Frauen* weiterzuerzählen.

Es gibt also noch viel zu tun UND es ist schon so viel passiert.

Lasst uns (weiter) darüber sprechen.

Claudia Sackl


Das Leseheft »Ihr habt da was vergessen … Frauengeschichte sichtbar machen« (2022) ist kostenlos auf der Homepage der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft als >>> Download verfügbar oder gegen eine Postversandgebühr auch in gedruckter Ausgabe erhältlich.

Detaillierte Informationen finden Sie hier: www.louiseottopeters-gesellschaft.de/leseheft-fempulse.


Fußnoten:

[1] Die Schreibung von Frauen* mit Sternchen wird dazu genutzt, um auch nicht-cis-Frauen – etwa transsexuelle, Transgender- oder nicht-binäre Personen, die sich als Frau* identifizieren – im Begriff »Frau*« miteinzuschließen.

[2] Mit dem Konzept des »Ent_Innerns« beschreibt der Berliner Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha eine reproduktive Erinnerungshandlung, die gewisse Geschichte(n) – meist jene marginalisierter Gruppen – verschweigt und enthistorisiert, während sie die Darstellung von Geschichte(n) aus der Perspektive der Herrschaftsgruppe normalisiert.
Vgl. Kien Nghi Ha: Macht(T)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft. In: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2005, S. 105-117.

 



www.louiseottopeters-gesellschaft.de

 


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Sommer 2023

 

 

Sharon Dodua Otoo / Jeannette Oholi (Hg.): Resonanzen – Schwarzes Literaturfestival. Eine Dokumentation
Spector Books 2022

Wieder sind die Tage der deutschsprachigen Literatur (kurz: der Bachmannpreis – die wohl fulminanteste und medienwirksamste Literaturshow im deutschsprachigen Raum – voll im Gange. Und auch Sharon Dodua Otoo, die Autorin der abschließenden Kurslektüre >>> »Adas Raum« (S. Fischer 2020) im Fernkurs für Literatur »nachLESEN«, ist mindestens auf zweifache Weise mit dem Klagenfurter Wettlesen verbunden. 2016 nahm sie selbst daran teil und gewann mit ihrem Text »Herr Gröttrup setzt sich hin« auch prompt den Hauptpreis; 2020 hielt sie schließlich die Klagenfurter Rede zur Literatur, die unter dem Titel >>> »Dürfen Schwarze Blumen malen?« auch in Buchform publiziert wurde. Mittlerweile ist die in London geborene Berlinerin zu einer zentralen Figur der Schwarzen deutschsprachigen Literatur geworden, die sie nicht nur als Autorin, sondern auch als Herausgeberin, Kuratorin und Aktivistin prägt. 2022 organisierte sie so etwa erstmals das Schwarze Literaturfestival »Resonanzen«, das auch dieses Jahr wieder im Rahmen der »Ruhrfestspiele Recklinghausen« stattgefunden hat.

Ein Ingeborg-Bachmann-Preis Wettbewerb mit ausschließlich Schwarzen Literaturkritiker_innen und Schwarzen Autor_innen – als solches wurde das Projekt im Oktober 2020 als Intervention in den nach wie vor viel zu weißen deutschsprachigen Literaturbetrieb geboren. Wettkampf wurde es im Mai 2022 dann zwar keiner, konstruktive Kritik gab es aber allemal: Sechs Autor*innen trugen eigens verfasste Kurztexte zum Thema »Erbe« vor, vier Literaturkritiker*innen diskutierten im Anschluss über das Vorgelesene und mit den Vorlesenden. Wer die bemerkenswerten Texte von Raphaëlle Red, Joe Otim Dramiga, Bahati Glaß, Winni Atiedo Modesto, Melanelle B. C. Hémêfa und Dean Ruddock sowie die aufschlussreichen Wortmeldungen der Jury – bestehend aus Aminata Cissé Schleicher (Germanistin & Amerikanistin, Mitbegründerin von ISD & EOTO), Elisa Diallo (Literaturwissenschaftlerin & Historikerin, Verlegerin), Ibou Coulibaly Diop (Literaturwissenschaftler & Kurator) und Dominique Haensell (Literaturwissenschaftlerin, Autorin & Chefredakteurin beim »Missy Magazine«) – nachlesen möchte, kann dies in der wertigen, in Buchform publizierten Dokumentation der Veranstaltung tun.

Herausgegeben wurde diese von Sharon Doduo Otoo gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Jeannette Oholi. In äußerst ansprechender Aufmachung werden darin nicht nur die Lesungen und Diskussionen der ersten Ausgabe des Resonanzen-Festivals, sondern auch das spannende Rahmenprogramm von 2022 festgehalten. Dieses umfasste unter anderem eine ebenso berührende wie inspirierende Eröffnungsrede von der simbabwischen Schriftstellerin, Filmemacherin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Tsitsi Dangarembga sowie einen zusammenfassenden Kommentar zum Festival von der Diversity-Trainerin Nouria Asfaha (Mitbegründerin & Herausgeberin von »afrolook!«, der ersten Zeitschrift der jüngeren Schwarzen Deutschen Bewegung) – der unter dem Titel »Träume werden wahr« übrigens auch in direktem Anschluss zum Leseheft Nr. 7 aus dem Fernkurs »nachLESEN« gelesen werden kann, in dem die Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt das Konzept der »Traum*Hoffnungen« entwirft. Und auch Tsitsi Dangarembga greift in ihrer einleitenden Rede die Fragen auf, wessen Geschichte(n) warum (nicht) erzählt werden, wessen Geschichten(n) im kollektiven Gedächtnis warum (nicht oder zu wenig) erinnert werden und inwiefern Literatur – und ein Literaturfestival – in diese gesellschaftspolitischen (Macht-)Strukturen intervenieren und Einfluss nehmen kann.

Darüber hinaus greifen auch die äußerst vielseitigen literarischen Texte der sechs eingeladenen Autor*innen viele jener Fragestellungen auf, die uns im Laufe des Fernkurses »nachLESEN« beschäftigt haben. So setzt sich etwa Joe Otim Dramige seinem Text »Adlam« mit Literatur und Sprache – in Form von Büchern, aber auch Alltagserzählungen – als Speicher von Wissen auseinander und erzählt dabei nicht nur eine nicht genug erinnerte Geschichte über eine große geopolitische Zäsur in Mali, sondern thematisiert auch das widerständige Potential verschütteter Schriften – und hinterfragt zugleich die dominante Rolle von Schriftlichkeit in der Tradierung von Wissen. Seinem Text stellt er folgendes Zitat von Malcolm X voran, in dem der afroamerikanische Aktivist und Bürgerrechtler das enge Zusammenwirken von Vergangenheit und Zukunft betont:

Armed with the knowledge of our past, we can with confidence charter a course for our future. Culture is an indispensable weapon in the freedom struggle. We must take hold of it and forge the future with the past.

Mit Zitaten – in diesem Fall aus verschiedenen Musiksongs – arbeitet auch Dean Ruddocks Text »pareidolie«, der entlang einer Playlist aus lyrics/Lyrik-Fragmenten von einer Reise ins All berichtet. Ähnlich der im Hip-Hop üblichen Sample-Technik collagiert der Autor dabei seinen Text, der im Erzählen über eine Zukunft im (kolonisierten) Weltraum darauf verweist, was eigentlich immer schon gewesen ist. Die Apokalypse [ist] eben schon lange passiert, bringt es Dominique Haensell in ihrem Kommentar auf den Punkt. Kapitalismuskritik trifft dabei auf Afro-Futurismus, die Grenzen zwischen Poesie und Musik werden porös und aus Altem entsteht Neues.

Neue (Erzähl-)Welten entwerfen auch die anderen vier, hier aus Platzgründen leider nicht näher besprochenen Texte, wenn Sie von vielschichtigen afrodiasporischen Lebensrealitäten und Zugehörigkeiten – zwischen veganer Leberwurst, schneebedecktem Zuckerrohr und vom Haare-Braiden ausgelösten Madeleine-Momenten – erzählen.

Neue, wichtige Wege hat Sharon Dodua Otoo mit dem Schwarzen Literaturfestival, das sie ins Leben gerufen hat, beschritten.

Neue Wege eröffnet sie auch mit der vorliegenden Printpublikation, dank der auch jene, die 2022 nicht vor Ort sein konnten, diesen Spuren folgen können. Sie ist ein Buch für alle, die auch nach dem Bachmannpreis noch nicht genug von (Gesprächen über) Literatur haben – alle, die sich für die Vielfalt Schwarzer deutschsprachiger Literatur interessieren – und alle, die an die subversive Kraft von Literatur glauben.

Claudia Sackl

 



 

 


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April & Mai 2023

 

 

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Stuttgart: Klett-Cotta 2023

Nein, das waren keine Menschen mehr, es war eine Masse. Grobkörnig war dieser Zug und doch ganz uniform. Etwas gestern noch Mannigfaltiges war vom Gewicht des darauf abgestellten Sommertags zusammengepresst wie von einem kosmischen Glasblock.

Dass Raphaela Edelbauer eine der großen Romancièren der österreichischen Gegenwartsliteratur ist, hätte wohl schon seit ihren letzten Publikationen »Das flüssige Land« (2019) und »Dave« (2021) niemand mehr anfechten wollen. Wie derzeit kaum ein*e andere*r schafft sie es, in ihren Texten plastische Sprachwelten zu erschaffen, die gleichermaßen fesseln und verblüffen – so auch in »Die Inkommensurablen«, einem historischen Wienroman, der diese Kategorisierung ganz neu denken lässt.

Aber von Beginn weg: Am 30. Juli 1914 wartet ganz Wien in größter Erregung auf das Verstreichen des deutschen Ultimatums gegenüber Russland. An diesem Vorabend des Kriegsausbruchs erreicht der 17-jährige Bauernknecht Hans Ranftler mit dem Nachtzug von Tirol aus die Bahnhofshalle der Hauptstadt. Entgegen der Erwartungen, die ihm von den geschmeidig durchs Gemenge manövrierenden Städter*innen entgegengebracht werden, möchte er sich aber nicht dem kollektiven Kriegstaumel der militärischen Mobilmachung anschließen. Vielmehr ist Hans auf dem Weg zur Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cherech, auf deren Annonce er in einer Tageszeitung gestoßen ist. Diese aber vertröstet sein Erstgespräch auf den Folgetag; noch ohne Unterkunft lesen ihn im Vorzimmer die angehende Mathematikerin Klara und der Offizierssohn Adam (ihrerseits beide Patient*innen in der Praxis) auf. Mit ihnen bricht Hans auf in eine über 349 Seiten ausgebreitete Nacht vor der Zeitenwende, die von ihm als Zentrum ausgehend kaleidoskopartig eine Stadt im Ausnahmezustand porträtiert.

Besagtes Kaleidoskop fokussiert Existenzen quer durch die gesellschaftlichen Schichten und auch abseits historisch gut dokumentierter Lebenswelten. Dieser Weitblick gelingt der Autorin durch die Trias ihrer Protagonist*innen: Mit Hans erschreibt sie sich eine Figur, die das bäuerliche aber auch das bürgerliche Leben kennt, Adam ist Spross eines tschechischen Adelsgeschlechts und Klara ist eine akademische Aufsteigerin aus dem Lumpenproletariat. All diese Realitäten werden in ihren sprachlich kunstvoll ausgestalteten Räumen vor der Folie zeitgeschichtlicher Entwicklungen zusammengeführt, wobei vermutlich auch historisch bewandte Leser*innen sich auf teils unbekanntem Terrain wiederfinden werden, wenn etwa die Tätigkeiten feministischer Clubs, queere Lebenswelten oder (wortwörtliche) Lokale im Untergrund zur Sprache kommen. Die Autorin biedert sich in diesem groß gedachten Unterfangen keiner historisierenden Sprachverwendung an, sondern findet ihren eigenen kunstvollen Ton voller überraschender Wortschöpfungen, der ihr erzähltes Wien in seiner Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit erfahrbar werden lässt.

Dass sich Hans, Klara und Adam in dieser Dreierkonstellation vor Helene Cherechs Praxis begegnen, ist überdies kein Zufall. Alle drei sind Träger*innen einer parapsychologischen Gabe. Hans merkt, wie seine Gedanken sich unheimlich gehäuft zwischen ihm und seinen Mitmenschen (in deren Unwissen) übertragen. Adam ist Gefäß fremder Erinnerungen. Klara hat eine zentrale Rolle im sogenannten Säkulumsculster inne. Der Säkulumscluster – das ist das massenpsychologische Phänomen, dessen Erforschung sich Helene Cherech verschrieben hat. Nacht für Nacht finden sich offenbar zahlreiche Menschen, insbesondere aus den Ländern des Kaiserreichs, im immerselben Traum wieder. Alle drei also haben es mit Erfahrungen zu tun, die über ihre Individualität und leiblichen Grenzen hinausgehen. Diese Gaben genauso wie der Cluster sind Varianten des dem Titel entsprechend unfassbaren Motivs der Masse, das in »Die Inkommensurablen« vielgestaltig verhandelt wird. Die Autorin spürt ihren Ausprägungen nach, ihrem Entstehen und ihrer Anziehungskraft, ihren Bewegungen und Handlungen.

In einem beeindruckend lebendig und anschaulich erzählten Wien, zwischen Politik, Psychologie und Verweisen auf zeitgenössische Esoterik, erkundet der Roman die Dynamiken menschlicher Massenphänomene und bleibt dabei trotz unbestrittener Aktualität seinem historischen Interesse treu. Der Text funktioniert als Reflexionsmöglichkeit beider zeitlicher Ebenen wohl gerade deshalb, weil vergleichbare Entwicklungen eben nicht zeitlich oder örtlich gebunden sind. Oder, wie es Adam Hans gegenüber treffend formuliert: Man kann jeden manipulieren, mein Freund, wenn man nur die richtigen Knöpfe findet.

 

Sarah Auer

 



 

 


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März 2023

 

 

Thomas Cadène / Benjamin Adam: soon
Aus d. Französischen v. Ulrich Pröfrock
Lettering v. Minou Zaribaf

Hamburg: Carlsen 2020

Science Fiction. Dystopie. Utopie? Climate Fiction. Near-Future Fiction. Future History. – Die von den beiden französischen Comic-Künstlern Thomas Cadène und Benjamin Adam kreierte Graphic Novel »soon« kann mit vielerlei Labels versehen werden. Geeint werden die unterschiedlichen, ineinander verschränkten Genre- und Motivtraditionen durch ein gemeinsames Anliegen: Die Frage, wie unsere Welt in der Zukunft aussehen könnte, wie diese Zustände beschrieben werden können und wie wir in der Zukunft (genauer gesagt im Jahr 2151) wohl über unsere unmittelbare Vergangenheit sprechen werden.

In einer eindrücklichen, durchaus unkonventionellen Bild-Text-Welt entwirft »soon« ein zukünftiges Szenario, in dem Klimakatastrophen, Kriege und Pandemien zu einer Apokalypse geführt und die Menschheit auf ein Zehntel der Bevölkerung dezimiert haben. Die Übriggebliebenen leben in sieben urbanen Zentren; ihr Alltag, ihr Energieverbrauch und ihre Bewegungen werden streng reglementiert, denn die Ressourcen der Erde neigen sich dem Ende zu. Während die verschiedenen Stadtzonen in Asien, Afrika und Amerika – in Europa scheint keine nennenswerte Zivilisation überlebt zu haben – von ihrer Umgebung abgeschottet werden, dürfen die (offiziell) nicht bewohnbaren – weil entweder zerstörten/verstrahlten oder geschützten – 88 % der Erdoberfläche nur von qualifiziertem Forscher- und Arbeitspersonal betreten werden, das die Regeneration der Natur penibel überwacht. In einem für diese Zwecke eingerichteten Labor befindet sich unser Protagonist Juri in der Lehre, als er von seiner Mutter Simone in die Stadt (New Winnepeg, Nordamerika) zurückbeordert wird: Sie steht kurz vor ihrem Aufbruch zu einer Weltraummission ohne Wiederkehr, die im Rahmen des sogenannten SOON-Projekts untersuchen soll, ob die Menschheit auf dem mehrere Lichtjahre entfernten Planeten Proxima Centauri B eine Zukunft haben könnte. Ihre von Presseterminen begleitete Weltreise durch die verbliebenen Stadtzonen unternimmt Simone gemeinsam mit Juri. Dieser ist jedoch wenig interessiert an einer emotionalen Aufarbeitung der Mutter-Sohn-Beziehung, sondern erkundet stattdessen in adoleszenter Selbstbefragung und -bewährung die elternfreien Zonen der jeweiligen Stadt: Ähnlich utopischer Gattungstraditionen bereist der Protagonist die (für ihn ebenso wie für uns) fremde Welt, die wir anhand seiner Erfahrungen und Reflexionen näher kennen- und hinterfragen lernen.

Das ist ein Erzählstrang der vorliegenden Graphic Novel, der in einzelnen Episoden in unterschiedlichen Pastelltönen aufgefächert wird – und der theoretisch gesehen auch stringent als separate Erzählung gelesen werden könnte. Unterbrochen wird die fortlaufende Handlung im Jahr 2051 jedoch regelmäßig von dokumentarischen Einschüben, die historische Sachinformationen zu der erzählten Zukunftswelt liefern. Scheinen diese zunächst wie auktoriale Erzählerkommentare aus dem Off, wird bald klar, dass sich hier eine deutlich komplexere und durchdachtere Erzählkonstruktion auftut: Denn es handelt sich hierbei vielmehr um Fragmente einer Erinnerungskultur, die Juri (in unterschiedlichen Altersstufen) im Dialog mit seiner Mutter oder Freunden aushandelt. Dies geschieht stets in mediatisierter Form. Mal hilft Simone ihrem Sohn beim Lernen für eine Geschichtsprüfung – zwischen den beiden Juris Tablet, auf dem er seinen Lernstoff in einer vielverzweigten Timeline und unterschiedlichen Infografiken notiert. Mal spazieren sie durch ein interaktives Geschichtsmuseum, dessen Böden und Wände aus Panels bestehen. Die unterschiedlichen Erzählebenen (die jeweiligen Meta-Bilder und die im Gespräch befindlichen Figuren) weiß Benjamin Adam dabei stets auf geniale Weise ineinander zu verweben. Er erschafft nicht nur (detaillierte, verschachtelte) Räume in Panels, sondern platziert seine (Körper-gewordenen) Panels auch im Raum. Die Figuren wiederum bewegen sich häufig nicht innerhalb, sondern außerhalb der Panels durch das Weltall-blaue Gutter, dessen strikte geometrische Struktur mal subtil, mal gänzlich aufgebrochen wird.

»soon« zeichnet sich aber nicht nur seinen klugen, experimentellen Umgang mit seiner Seitenarchitektur aus, sondern hinterfragt auch auf gesellschaftspolitischer und philosophischer Ebene, wie aus dem Zukünftigen ebenso wie aus dem Vergangenen Sinn erzeugt werden kann. Jene Sequenzen, die retrospektiv auf unsere unmittelbare Zukunft blicken, erzählen nicht einfach linear die Historie dieser zukünftigen Welt nach, sondern hinterfragen durch ihre dialogische Struktur die autorisierte Geschichtsschreibung und zeugen so von dem Spannungsverhältnis zwischen dem kanonisierten kollektiven Gedächtnis der Zukunftswelt und alternativen Erinnerungsformen. Die dichte Struktur der Graphic Novel wird zudem immer wieder durch unterhaltsame Details aufgelockert. Beispielsweise, wenn Oprah Winfrey in Zeitungsausschnitten aus dem Jahr 2034 als US-amerikanische Präsidentin auftritt, während unter den Schlagzeilen berichtet wird, dass Donald Trump wieder einmal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Auf beeindruckend und zugleich beängstigend realistische Weise extrapolieren Thomas Cadène und Benjamin Adam in »soon« Entwicklungen unserer Gegenwart und erschaffen eine Zukunft, die uns erschreckend nahe erscheint. Während der Grippe-Pandemie im Jahr 2040 fällt der internationale Zusammenhalt auseinander, als die WHO sich außerstande sieht, eine gerechte Verteilung der Impfstoffbestände zu gewährleisten:

Als das Virus über die Welt kam, musste mangels wirklicher gemeinsamer Politik … / … jedes Land eigenständig mit den Herstellern von Impfstoffen verhandeln. / Die reichsten Länder bekamen mehr Impfstoff.

So fasst Juri vor seiner Timeline zur Gesundheitskrise > 2065 zusammen. Das vor jeglicher Berichterstattung über Covid-19 entstandene, 2019 in französischer Originalausgabe erschienene Buch wirkt heute fast prophetisch, das darin imaginierte Szenario dadurch noch ein wenig unheimlicher – aber keinesfalls weniger faszinierend, wenn es auf höchster Graphic-Novel-Kunst die Zerbrechlichkeit gleichermaßen wie die Widerstandsfähikeit der Erde und der Menschheit literarisiert.

Claudia Sackl

 



 

 


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Februar 2023

 

 

Theresia Enzensberger: Auf See
München: Hanser 2022.

Wenn sich die globalen Krisen häufen, wuchern und verdichten sich auch die (nicht nur literarischen) Erzählungen um den drohenden Zusammenfall menschlicher Ordnungssysteme. Und zwischen historischen apokalyptischen Texten und immer beunruhigenderen Ausdeutungen wissenschaftlicher Prognosen könnten Leser*innen nur allzu leicht zu dem ernüchternden Schluss kommen: Die Welt war eigentlich immer schon am Ende. In Theresia Enzensbergers neuestem Roman »Auf See« wird dieses erwartungsvolle Unbehagen als Ausgangsgefühl in eine nicht genau datierte Zukunft transponiert, die unserer Gegenwart technologisch gesehen noch vergleichsweise nahesteht. Aus (für den Anfang) zwei Perspektiven wird der Erzählraum aufgemacht, jeweils markiert durch eine Überschreibung der Kapitel mit einem Namen: Yada. Helena.

Ihre erste Begegnung machen die Leser*innen mit der 17-jährigen Yada, auf einer vor der deutschen Ostsee schwimmenden Plattform – der Seestatt. Yada ist die Tochter des als Visionär gefeierten Unternehmers, der mit diesem autarken Mikrokosmos eine Zuflucht vor immer unvorhersehbareren klimatischen Entwicklungen und einem kontinuierlichen Verfall der Staatlichkeit unter dem Druck von Großkonzernen bieten wollte. Die Ich-Erzählerin selbst ist seit zehn Jahren hier; damals wurde sie gerichtlich aus der Obhut ihrer Mutter genommen, die an einer rätselhaften psychischen Erkrankung gelitten haben soll. Hier in der Seestatt führt die Jugendliche einen privilegierten aber eintönigen Alltag, der vor allem durch einen strikten Zeitplan rund um Essensausgaben, sportliche Betätigung und Unterrichtseinheiten in naturwissenschaftlichen Fächern, Softwartechnik, Business Strategy oder Leadership Skills geprägt ist. Von den idealistischen Leitern – alles Männer, überhaupt gibt es bis auf einige Arbeiterinnen keine Frauen oder Kinder auf der Plattform – wird die Seestatt zwar immer noch als richtungsweisendes Projekt inszeniert, aber das Scheitern ist dieser baulichen Utopie in ihrer Abnützung und zunehmenden Vereinnahmung durch die Natur schon deutlich eingeschrieben:

Ich betrachtete die Algen, die in der Mulde wuchsen und sich an den Fugen entlang ausbreiteten. Winziges, sternförmiges Grün auf der gräulichen Oberfläche, ein unmerkliches, aber mächtiges Streben nach außen, nach oben. In der Ferne arbeitet der immer gleiche Rhythmus der Windräder, die wie starre Palmen am Horizont standen. In jeder Himmelsrichtung erhoben sie sich über dem Meer. Dazwischen unsere Siedlung, hermetische Waben, wellenförmiges Fiberglas, das einmal weiß geglänzt hatte und durch dessen schmutziges Grau sich jetzt feine Risse zogen.

Es ist jedoch keinesfalls eine moralisch aufgeladene Gegenüberstellung von Natur und Kultur, zu der sich die Autorin hier hinreißen lassen würde; ihr Interesse gilt vielmehr den vielfältigen Verbindungen, die Menschen auf persönlicher und gesellschaftspolitischer Ebene miteinander eingehen. Neben die in die Realität geholte Utopie der Seestatt (deren Substanz – so viel kann verraten werden – nicht nur konkret stofflich, sondern auch ideologisch porös geworden ist) werden andere Bilder von Vergemeinschaftung und Zusammenleben gestellt. Die von protokollartiger Nüchternheit geprägte Sprache Yadas steht zunächst dem Erzählstrang der Künstlerin Helena gegenüber. Helena lässt sich in dieser zunehmend unwirtlichen, spätkapitalistisch geprägten Welt ziellos durch das Berliner Szeneleben treiben. Ihren Erfolg verdankt sie einem viral gegangenen Video, in dem sie wahllos zwölf Prophezeiungen ausgesprochen hat. Wider Erwarten sind viele davon eingetreten, was ihr den Ruf eines modernen Orakels einbrachte. Und: Eine kleine, aber mächtige Fraktion hatte beschlossen, in dem Video ein Kunstwerk und in ihr eine Künstlerin zu sehen. Aus dem Erfolg des Videos heraus hat sie zu Versuchszwecken eine Sekte gegründet, deren devote Mitglieder sie fortan in um horrende Preise verkauften Portraits festhält. Ein Heilsversprechen für die Verzweifelten vor der Endzeitstimmung, für die pragmatische Helena nur eine unbedeutende Intervention in ohnehin abstrusen Gesellschaftsdynamiken.

Ob auf der Seestatt oder am Festland – Theresia Enzensberger beschreibt mit großer sprachlicher Klarheit das alltägliche Leben im permanenten Ausnahmezustand und spürt gesellschaftlichen Machtdynamiken bis in ihre privatesten Ausprägungen hinein nach. Das dabei aufgemachte Changieren zwischen Dystopie und Utopie in den Erzählungen der Protagonistinnen ist mit zwischengeschobenen Fundstücken aus einem zuerst nicht weiter zugeordneten Archiv versetzt. Es sind historische Anekdoten, die nur allzu deutlich zeigen, wie utopisch scheinende Pläne sich häufig in territoriale, wirtschaftspolitische, schlussendlich koloniale Machtansprüche auswachsen. Überhaupt scheint eine der Grundfragen des Romans zu sein, ob aus einer zutiefst kapitalistischen und auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftsordnung heraus Utopisches entstehen kann, ohne – so eine der Figuren – die Systeme radikal zu unterbrechen.

»Auf See« ist ein Text, der sich anhand individueller Geschichten entwickelt, dabei aber vor allem Fragen an kollektiv getragene Systeme stellt. So wie sich die einzelnen Erzählstränge mit der Zeit zusammenfügen, werden auch die Verstrickungen unterschiedlicher hierarchischer Strukturen offengelegt. Den Leser*innen wird dabei unbequem vor Augen geführt, wie viel diese fiktive Zukunft eigentlich jetzt schon mit ihrer Gegenwart zu tun hat. Oder, wie es im dem Roman vorangestellten Zitat aus Lord Byrons »Darkness« heißt:
I had a dream, which was not all a dream
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Sarah Auer

 



 

 


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Jänner 2023

 

 

Birgit Weyhe: Rude Girl
Berlin: avant 2022.

– Vorspann –

»Darf« ein Mann eine Biografie über eine Frau verfassen? »Darf« ein weißer Schriftsteller die Texte einer afroamerikanischen Poetin übersetzen? »Darf« eine weiße Autorin über das Leben einer Schwarzen Person schreiben? Vor dem Hintergrund einer (be-)drohend heraufbeschwörten Lawine an vermeintlichen Schreib- und Sprechverboten, wird die Frage nach dem künstlerischen »Dürfen« nicht nur im medialen Diskurs gerne auf absolutierende Entscheidungsfragen zugespitzt. Neben vielen anderen Dingen wird dabei häufig übersehen, dass uns in erster Linie vielleicht nicht so sehr das »Was« der Darstellung beschäftigen sollte, sondern ihr »Wie« – und dass Kunst (und die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema/einem Gegenstand/einer Person) letztlich immer auch einen Dialog darstellt. Ein Dialog mit beidem, ihrem »Was« ebenso wie ihrem »Wie«.

– die Entstehungsgeschichte –

Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung, die sich im Spannungsfeld dieser gesellschaftlichen Fragstellungen zutrug, kreierte die renommierte deutsche Comickünstlerin Birgit Weyhe ihre neueste Publikation. Nachdem die Autorin von Büchern wie »Madgermanes« (das sich mit der Geschichte von Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik in der DDR auseinandersetzt) oder »Lebenslinien« (das die bewegten Lebensgeschichten verschiedener Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in gezeichneten Kurzbiografien sammelt; siehe >>> Lese-Tipp im April 2020) auf einer Germanistik-Tagung im Mittleren Westen der USA mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert wird, setzt sie sich mit der Frage auseinander, wovon und wie sie als weiße Frau aus Norddeutschland (die ihre Kindheit und Jugend in Kenia und Uganda verbracht hat) erzählen »darf«/kann/soll: Ich bin beleidigt. / In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben. – bringt sie ihre erste (Trotz-)Reaktion selbstkritisch auf den Punkt.

Dass alles ganz anders kommt, als hier zunächst angedeutet wird, verrät schon der Blick auf das Cover des vorliegenden neuen Buches von Birgit Weyhe: Nach der Begegnung mit der Germanistin Priscilla Layne, mehreren gegenseitigen Interviews und gemeinsamem kritischem Austausch beschließt die Birgit Weyhe einen Comic über Priscilla Layne zu verfassen. Über das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die weder weiß ist, noch mittelalt, noch aus Norddeutschland kommt. Was zunächst als ein aus 3x6 Panels bestehender Comicstip auf der Comicseite der deutschen Tageszeitung »Der Tagesspiegel« erscheint (und in dieser Form auch in das 2020 publizierte Buch »Lebenslinien« Eingang findet), wird zwei Jahre später zu einem 312 Seiten umfassenden Buch, das in durch verschiedene Songs, Musikalben und Filme aus der Populärkultur eingeleiteten Episoden die Kindheit und Jugend der in Barbados geborenen und in Chicago aufgewachsenen Germanistik-Professorin nachzeichnet.

– das Buch –

Dabei ergänzt Birgit Weyhe die aus ihrer Feder stammenden Lebensgeschichte durch eine metareflexive Ebene und bringt erstere so in einen (selbst-)kritischen Dialog mit der Biografierten: Regelmäßig werden die biografischen Episoden aus Priscilla Laynes Leben (im Text Crystal genannt) durch einfarbige Szenen in zurückgenommenem Pastellorange durchbrochen, in denen Layne das von Weyhe in einer Mischung aus Grün, Orangbraun, Schwarz und Weiß Erzählte und Gezeichnete wortwörtlich in die Hand nimmt, rezipiert, kommentiert, ergänzt und teilweise auch korrigiert. Dabei bleiben ihre Einwürfe nicht einfach isoliert von bzw. ohne Konsequenzen für den biografischen Erzählstrang, sondern nehmen direkt ebenso wie indirekt Einfluss auf diesen. So greift Birgit Weyhe die von Priscilla Layne eingebrachten Aspekte etwa immer wieder explizit auf und verändert als Antwort darauf teilweise auch ihre künstlerische Zugangsweise. Im Dialog mit der Biografierten entsteht so eine vielstimmige Graphic Novel, in der das gemeinsame Erzählen und voneinander Lernen vor eine vermeintliche Autorität von Autor*innenschaft tritt.

In »Rude Girl« werden jedoch nicht nur Themen wie kulturelle und sprachliche Zugehörigkeit auf differenzierte, vielschichtige Weise verhandelt, sondern auch so vielseitige und unterschiedliche Themenbereiche wie Geschlechterrollen, sexueller Missbrauch oder die Bedeutung von Musik und Film für die eigene Biografie auf zeichnerisch und erzählerisch innovative Weise verarbeitet. Wie Chrystal nicht nur in der in ihren Wurzeln antirassistisch und antikapitalistisch ausgerichteten Skinhead-Bewegung, sondern auch in der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur – wie etwa Franz Kafkas »Verwandlung« oder May Ayims Gedichten – ihre eigenen Zugehörigkeiten findet bzw. schafft, erkunden Birgit Weyhe und Priscilla Layne in ausdrucksstarker (Bild-)Sprache. In polyphoner Zusammenarbeit ziehen sie dabei die vielleicht oft ungeahnten, aber meist umso komplexeren und faszinierenderen Verbindungslinien zwischen vermeintlich unterschiedlichen Welten wie Chicago und Berlin, der Karibik und Europa, Franz Kafka und May Ayim nach.  

– Nachspann –

»Reigen«, »Lebenslinien«, »Madgermanes« – in ihren Graphic Novels nutzt Birgit Weyhe unterschiedliche Formen des biografischen Erzählens im Comic. Mit »Rude Girl« hat sie ihren bisherigen Werken nun eine weitere neue, besondere Spielart hinzugefügt, die nicht nur etablierte Vorstellungen von dem »Was« und (vor allem) dem »Wie« von Biografien infrage stellt, sondern von der wir auch als Leser*innen mit Blick auf das »Wie« unserer Diskurs- und Diskussionskultur so einiges lernen können.


Claudia Sackl

 



 

 

   

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