Februar 2023
Theresia Enzensberger: Auf See
München: Hanser 2022.
Wenn sich die globalen Krisen häufen, wuchern und verdichten sich auch die (nicht nur literarischen) Erzählungen um den drohenden Zusammenfall menschlicher Ordnungssysteme. Und zwischen historischen apokalyptischen Texten und immer beunruhigenderen Ausdeutungen wissenschaftlicher Prognosen könnten Leser*innen nur allzu leicht zu dem ernüchternden Schluss kommen: Die Welt war eigentlich immer schon am Ende. In Theresia Enzensbergers neuestem Roman »Auf See« wird dieses erwartungsvolle Unbehagen als Ausgangsgefühl in eine nicht genau datierte Zukunft transponiert, die unserer Gegenwart technologisch gesehen noch vergleichsweise nahesteht. Aus (für den Anfang) zwei Perspektiven wird der Erzählraum aufgemacht, jeweils markiert durch eine Überschreibung der Kapitel mit einem Namen: Yada. Helena.
Ihre erste Begegnung machen die Leser*innen mit der 17-jährigen Yada, auf einer vor der deutschen Ostsee schwimmenden Plattform – der Seestatt. Yada ist die Tochter des als Visionär gefeierten Unternehmers, der mit diesem autarken Mikrokosmos eine Zuflucht vor immer unvorhersehbareren klimatischen Entwicklungen und einem kontinuierlichen Verfall der Staatlichkeit unter dem Druck von Großkonzernen bieten wollte. Die Ich-Erzählerin selbst ist seit zehn Jahren hier; damals wurde sie gerichtlich aus der Obhut ihrer Mutter genommen, die an einer rätselhaften psychischen Erkrankung gelitten haben soll. Hier in der Seestatt führt die Jugendliche einen privilegierten aber eintönigen Alltag, der vor allem durch einen strikten Zeitplan rund um Essensausgaben, sportliche Betätigung und Unterrichtseinheiten in naturwissenschaftlichen Fächern, Softwartechnik, Business Strategy oder Leadership Skills geprägt ist. Von den idealistischen Leitern – alles Männer, überhaupt gibt es bis auf einige Arbeiterinnen keine Frauen oder Kinder auf der Plattform – wird die Seestatt zwar immer noch als richtungsweisendes Projekt inszeniert, aber das Scheitern ist dieser baulichen Utopie in ihrer Abnützung und zunehmenden Vereinnahmung durch die Natur schon deutlich eingeschrieben:
Ich betrachtete die Algen, die in der Mulde wuchsen und sich an den Fugen entlang ausbreiteten. Winziges, sternförmiges Grün auf der gräulichen Oberfläche, ein unmerkliches, aber mächtiges Streben nach außen, nach oben. In der Ferne arbeitet der immer gleiche Rhythmus der Windräder, die wie starre Palmen am Horizont standen. In jeder Himmelsrichtung erhoben sie sich über dem Meer. Dazwischen unsere Siedlung, hermetische Waben, wellenförmiges Fiberglas, das einmal weiß geglänzt hatte und durch dessen schmutziges Grau sich jetzt feine Risse zogen.
Es ist jedoch keinesfalls eine moralisch aufgeladene Gegenüberstellung von Natur und Kultur, zu der sich die Autorin hier hinreißen lassen würde; ihr Interesse gilt vielmehr den vielfältigen Verbindungen, die Menschen auf persönlicher und gesellschaftspolitischer Ebene miteinander eingehen. Neben die in die Realität geholte Utopie der Seestatt (deren Substanz – so viel kann verraten werden – nicht nur konkret stofflich, sondern auch ideologisch porös geworden ist) werden andere Bilder von Vergemeinschaftung und Zusammenleben gestellt. Die von protokollartiger Nüchternheit geprägte Sprache Yadas steht zunächst dem Erzählstrang der Künstlerin Helena gegenüber. Helena lässt sich in dieser zunehmend unwirtlichen, spätkapitalistisch geprägten Welt ziellos durch das Berliner Szeneleben treiben. Ihren Erfolg verdankt sie einem viral gegangenen Video, in dem sie wahllos zwölf Prophezeiungen ausgesprochen hat. Wider Erwarten sind viele davon eingetreten, was ihr den Ruf eines modernen Orakels einbrachte. Und: Eine kleine, aber mächtige Fraktion hatte beschlossen, in dem Video ein Kunstwerk und in ihr eine Künstlerin zu sehen. Aus dem Erfolg des Videos heraus hat sie zu Versuchszwecken eine Sekte gegründet, deren devote Mitglieder sie fortan in um horrende Preise verkauften Portraits festhält. Ein Heilsversprechen für die Verzweifelten vor der Endzeitstimmung, für die pragmatische Helena nur eine unbedeutende Intervention in ohnehin abstrusen Gesellschaftsdynamiken.
Ob auf der Seestatt oder am Festland – Theresia Enzensberger beschreibt mit großer sprachlicher Klarheit das alltägliche Leben im permanenten Ausnahmezustand und spürt gesellschaftlichen Machtdynamiken bis in ihre privatesten Ausprägungen hinein nach. Das dabei aufgemachte Changieren zwischen Dystopie und Utopie in den Erzählungen der Protagonistinnen ist mit zwischengeschobenen Fundstücken aus einem zuerst nicht weiter zugeordneten Archiv versetzt. Es sind historische Anekdoten, die nur allzu deutlich zeigen, wie utopisch scheinende Pläne sich häufig in territoriale, wirtschaftspolitische, schlussendlich koloniale Machtansprüche auswachsen. Überhaupt scheint eine der Grundfragen des Romans zu sein, ob aus einer zutiefst kapitalistischen und auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftsordnung heraus überhaupt Utopisches entstehen kann, ohne – so eine der Figuren – die Systeme radikal zu unterbrechen.
»Auf See« ist ein Text, der sich anhand individueller Geschichten entwickelt, dabei aber vor allem Fragen an kollektiv getragene Systeme stellt. So wie sich die einzelnen Erzählstränge mit der Zeit zusammenfügen, werden auch die Verstrickungen unterschiedlicher hierarchischer Strukturen offengelegt. Den Leser*innen wird dabei unbequem vor Augen geführt, wie viel diese fiktive Zukunft eigentlich jetzt schon mit ihrer Gegenwart zu tun hat. Oder, wie es im dem Roman vorangestellten Zitat aus Lord Byrons »Darkness« heißt:
I had a dream, which was not all a dream.
Sarah Auer
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Jänner 2023
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Birgit Weyhe: Rude Girl
Berlin: avant 2022.
– Vorspann –
»Darf« ein Mann eine Biografie über eine Frau verfassen? »Darf« ein weißer Schriftsteller die Texte einer afroamerikanischen Poetin übersetzen? »Darf« eine weiße Autorin über das Leben einer Schwarzen Person schreiben? Vor dem Hintergrund einer (be-)drohend heraufbeschwörten Lawine an vermeintlichen Schreib- und Sprechverboten, wird die Frage nach dem künstlerischen »Dürfen« nicht nur im medialen Diskurs gerne auf absolutierende Entscheidungsfragen zugespitzt. Neben vielen anderen Dingen wird dabei häufig übersehen, dass uns in erster Linie vielleicht nicht so sehr das »Was« der Darstellung beschäftigen sollte, sondern ihr »Wie« – und dass Kunst (und die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema/einem Gegenstand/einer Person) letztlich immer auch einen Dialog darstellt. Ein Dialog mit beidem, ihrem »Was« ebenso wie ihrem »Wie«.
– die Entstehungsgeschichte –
Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung, die sich im Spannungsfeld dieser gesellschaftlichen Fragstellungen zutrug, kreierte die renommierte deutsche Comickünstlerin Birgit Weyhe ihre neueste Publikation. Nachdem die Autorin von Büchern wie »Madgermanes« (das sich mit der Geschichte von Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik in der DDR auseinandersetzt) oder »Lebenslinien« (das die bewegten Lebensgeschichten verschiedener Personen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in gezeichneten Kurzbiografien sammelt; siehe >>> Lese-Tipp im April 2020) auf einer Germanistik-Tagung im Mittleren Westen der USA mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert wird, setzt sie sich mit der Frage auseinander, wovon und wie sie als weiße Frau aus Norddeutschland (die ihre Kindheit und Jugend in Kenia und Uganda verbracht hat) erzählen »darf«/kann/soll: Ich bin beleidigt. / In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben. – bringt sie ihre erste (Trotz-)Reaktion selbstkritisch auf den Punkt.
Dass alles ganz anders kommt, als hier zunächst angedeutet wird, verrät schon der Blick auf das Cover des vorliegenden neuen Buches von Birgit Weyhe: Nach der Begegnung mit der Germanistin Priscilla Layne, mehreren gegenseitigen Interviews und gemeinsamem kritischem Austausch beschließt die Birgit Weyhe einen Comic über Priscilla Layne zu verfassen. Über das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die weder weiß ist, noch mittelalt, noch aus Norddeutschland kommt. Was zunächst als ein aus 3x6 Panels bestehender Comicstip auf der Comicseite der deutschen Tageszeitung »Der Tagesspiegel« erscheint (und in dieser Form auch in das 2020 publizierte Buch »Lebenslinien« Eingang findet), wird zwei Jahre später zu einem 312 Seiten umfassenden Buch, das in durch verschiedene Songs, Musikalben und Filme aus der Populärkultur eingeleiteten Episoden die Kindheit und Jugend der in Barbados geborenen und in Chicago aufgewachsenen Germanistik-Professorin nachzeichnet.
– das Buch –
Dabei ergänzt Birgit Weyhe die aus ihrer Feder stammenden Lebensgeschichte durch eine metareflexive Ebene und bringt erstere so in einen (selbst-)kritischen Dialog mit der Biografierten: Regelmäßig werden die biografischen Episoden aus Priscilla Laynes Leben (im Text Crystal genannt) durch einfarbige Szenen in zurückgenommenem Pastellorange durchbrochen, in denen Layne das von Weyhe in einer Mischung aus Grün, Orangbraun, Schwarz und Weiß Erzählte und Gezeichnete wortwörtlich in die Hand nimmt, rezipiert, kommentiert, ergänzt und teilweise auch korrigiert. Dabei bleiben ihre Einwürfe nicht einfach isoliert von bzw. ohne Konsequenzen für den biografischen Erzählstrang, sondern nehmen direkt ebenso wie indirekt Einfluss auf diesen. So greift Birgit Weyhe die von Priscilla Layne eingebrachten Aspekte etwa immer wieder explizit auf und verändert als Antwort darauf teilweise auch ihre künstlerische Zugangsweise. Im Dialog mit der Biografierten entsteht so eine vielstimmige Graphic Novel, in der das gemeinsame Erzählen und voneinander Lernen vor eine vermeintliche Autorität von Autor*innenschaft tritt.
In »Rude Girl« werden jedoch nicht nur Themen wie kulturelle und sprachliche Zugehörigkeit auf differenzierte, vielschichtige Weise verhandelt, sondern auch so vielseitige und unterschiedliche Themenbereiche wie Geschlechterrollen, sexueller Missbrauch oder die Bedeutung von Musik und Film für die eigene Biografie auf zeichnerisch und erzählerisch innovative Weise verarbeitet. Wie Chrystal nicht nur in der in ihren Wurzeln antirassistisch und antikapitalistisch ausgerichteten Skinhead-Bewegung, sondern auch in der Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur – wie etwa Franz Kafkas »Verwandlung« oder May Ayims Gedichten – ihre eigenen Zugehörigkeiten findet bzw. schafft, erkunden Birgit Weyhe und Priscilla Layne in ausdrucksstarker (Bild-)Sprache. In polyphoner Zusammenarbeit ziehen sie dabei die vielleicht oft ungeahnten, aber meist umso komplexeren und faszinierenderen Verbindungslinien zwischen vermeintlich unterschiedlichen Welten wie Chicago und Berlin, der Karibik und Europa, Franz Kafka und May Ayim nach.
– Nachspann –
»Reigen«, »Lebenslinien«, »Madgermanes« – in ihren Graphic Novels nutzt Birgit Weyhe unterschiedliche Formen des biografischen Erzählens im Comic. Mit »Rude Girl« hat sie ihren bisherigen Werken nun eine weitere neue, besondere Spielart hinzugefügt, die nicht nur etablierte Vorstellungen von dem »Was« und (vor allem) dem »Wie« von Biografien infrage stellt, sondern von der wir auch als Leser*innen mit Blick auf das »Wie« unserer Diskurs- und Diskussionskultur so einiges lernen können.
Claudia Sackl
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