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Lese-Tipp im Juli 2025

Andrea Heinisch: Gute Kinder, Picus 2024

Nur ein kleiner Ausflug, sage ich und nicke im Vorbeigehen der Frau an der Rezeption einen Gruß zu, freundlich wie immer, doch sie ruft mir nach: Ja Frau Heiligstetter, Sie können doch nicht alleine losgehen!
(S.64)


Nur ein kleiner Ausflug – was hier so selbstverständlich aus dem Mund der Erzählerin kommt, läuft schnell an Schranken. Denn weder ist die Erzählerin Gast in einem Hotel, noch kann sie ihre Tagesstrukturen nach Belieben selbst gestalten. Tatsächlich ist die siebzigjährige Inge dort, wo man das Vorher an der Tür abgibt wie altes Gewand, das einem beim besten Willen nicht mehr passt und nie wieder passen wird. (S. 7) In einem Pflegeheim, dauerumsorgt vom Personal. Dazu kam es, weil sie ihre Wohnung in Brand gesetzt hatte und die Tochter, von der Situation überfordert, die Mutter neu unterbringen musste. Inge, die sich in ihrer neuen Umgebung nur unwillig einfügt, findet im Pfleger Manni eine Person, der sie ihre Erinnerungen anzuvertrauen bereit ist, begegnet den anderen aber mit der Skepsis der Inhaftierten. Gleichzeitig verrutscht ihre Wahrnehmung mehr und mehr. Gesichter und Erlebnisse gehen verloren, werden überlagert von biografischen Skizzen und Gefühlsblitzern, bis es zwischen der Gegenwart ihrer Umgebung und dem Vorher ihrer Gedanken kaum mehr Anhaltspunkte der Unterscheidung gibt.


Die Ich-Erzählerin wird dabei zur unsteten Komplizin der Leser*innen, lässt einblicken in die wahren Motivationen für ihr Handeln – oder zumindest in das, was sie zu dem Zeitpunkt für real hält. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Nebeneinander der Narration; Sprunghaft changieren die Schilderungen, die im eindringlichen Präsens gehalten sind, zwischen Wahrnehmung und Erinnerung. Der selige Ehemann Herbert überlagert so Pfleger Manni, die vielen Besuche der Tochter Helene versickern spurlos, kleinere und größere Themen schlittern als seltsame Psychosen durch ihr Empfinden und gelegentlich pocht sie die Grenzen ihrer neuen Lebensrealität gehörig ab:


Den Kopf, den Schädel, um den Schädel geht es, haben sie mir fixiert. In eine Box gesteckt und fixiert. Ich habe nachgegeben, aber zuschauen werde ich ihnen nicht auch noch. Ich schließe die Augen. Am liebsten gleich für die Ewigkeit, denke ich, und bin froh, dass sie mir Kopfhörer aufgesetzt haben. Trommler, Pfeifer und Gaukelspieler müssen draußen bleiben. Die Ewigkeit ist still. Manfred hat mir seine Hand auf die Beine gelegt, alles andre von mir ist ja Maschine. Manchmal drückt er wie zur Bekräftigung […] Als ich aus der Maschine gezogen werde, stelle ich mich eine Zeitlang tot. Vielleicht verwirrt sie das.  Mich zumindest verwirrt es, ich muss lange nachdenken, bis mir wieder einfällt, dass ich am Leben bin. Kann man sterben, wenn man vergisst, dass man in Wirklichkeit lebt? Ich glaube ja. Das ist alles eine Frage des Willens.
(S. 89f.)


Andrea Heinisch gelingt die Darstellung einer Ich-Erzählerin, die gleichermaßen unzuverlässig wie nachvollziehbar ist, durch deren Narration die Erinnerung an das Vorher in einer unzufriedenstellenden Ehe, Mutterschaft und Arbeit im Import-Export tröpfelt und die Gegenwart einfärbt. Es sind bittere Rückblicke, aber nicht weniger scharf; Die Kritik am Leben davor kommt en passant. Gleichzeitig ist Inges Haltung durch einen tiefen Widerwillen geprägt, nach den Spielregeln des Pflegeheims zu spielen. Zwischen Senilität, Demenz und mildem Ungehorsam stiftet sie sich selbst und etwa auch die Heimbekanntschaft Dorothea dazu an, Grenzen auszureizen, und wird dadurch zu einer tragisch-komischen Figur. Am Schluss bleibt die Frage nach dem Wesentlichen, dem Fassbaren, das nicht verloren gehen kann. Es findet sich im Detail und in den Beziehungen, die das Leben gesponnen hat, wenn der Rest auch früher oder später verloren geht.


Zugriff jetzt, denke ich. Und doch werdet ihr alle, ihr alle werdet den Zugriff verlieren. Eintauchen werde ich in den letzten Moment wie ins Meer in Istanbul. Zu weit hinausschwimmen werde ich, zu tief tauchen werde ich, hinter mir werde ich alles lassen, das war, nichts werde ich wissen von dem, was kommt.
(S.190)

 

iris gassenbauer

 

 

 


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