Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps

Hier finden Sie vom Team der Literarischen Kurse zusammengestellte Informationen und Hinweise rund um den aktuellen Fernkurs »lyrikLESEN«:


Lese-Tipps im März 2024

Frauen I Lyrik
Gedichte in deutscher Sprache. Herausgegeben von Anna Bers
Reclam 2022

In der Regel kann ein Reclam-Heft bequem in die Manteltasche gesteckt werden, wo es sich an den Oberschenkel schmiegt und nicht weiter auffällt. Dieser Versuch ist im Falle von „Frauen I Lyrik“ zum Scheitern verurteilt: Es ist ein monströser Reclam-Riese in dem sich 1055 Seiten zu 4,5 cm Gelbheit bündeln und in dem 500 Gedichte aus einem Jahrtausend ihren Platz finden. Und es ist eine Anthologie, die sich freigestrampelt hat von der Vorstellung, dass die große und wertvolle, die kanonwürdige und durch die Jahrhunderte in Schleife rezipierte Lyrik ganz selbstverständlich aus Männerköpfen stammt. So formuliert Anna Bers, Herausgeberin der Anthologie und Literaturwissenschaftlerin an der Georg-August-Universität Göttingen, im ebenso umfassenden Nachwort:


Die Literaturgeschichte wird mindestens bis zur moderne als eine Geschichte erzählt, in der die herausragenden Orientierungsfiguren (die kanonisierten Texte […]) aber auch ihre Nachahmer, Zeitgenossen, Schüler und Epigonen männlich sind. So wird die Wechselbewegung aus Innovation und Normalisierung immer gemessen an den Erzeugnissen dieser männlichen Geschichte. (S.951)

Hiergegen arbeitet „Frauen I Lyrik“ an. Chronologisch geordnet liegen die Gedichte mit dem Öffnen des Bandes vor uns Lesenden, so können spannende Kontraste, Lücken, Brüche, Dialoge und Fragen entstehen (S.7). Und tatsächlich führt die Lektüre durch die Jahrhunderte an Verkettungen oder auch Bruchstellen entlang, etwa wenn sich Nelly Sachs „Chor der Geretteten“ eben noch mit der Bitte:


Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –
Es könnte sein, es könnte sein,
Daß wir zu Staub zerfallen –
vor euren Augen zerfallen zu Staub.

(S.562)

vor Ilse Schneider-Lengyels „Gott der Schläge“ reiht und dieser direkt in die Mitte der Geretteten die Peitsche zu schnalzen scheint:


Nicht genug /
Er teilt aus und peitschte
weitgespreizter Hand die Wogen.
Die Wasser brüllten
unter dieser Wucht.
  (S.562)

Nicht nur aus der Chronologie heraus lässt sich „Frauen I Lyrik“ erlesen; die Anthologie bietet darüber hinaus vier Perspektiven, die eine differenzierte Lektüre ermöglichen: Kanonbildung, Epochentypisches, Emanzipatorisches und die Verortung eines weiblichen Ichs beziehungsweise einer „weiblichen“ Stimme sind hier ordnungsgebend. Diese perspektivische Orientierungshilfe wird in einer Punkte-Symbolleiste abgebildet, die eine schnelle Zuordnung ermöglicht. Selbstständig an den jeweiligen Symbolleisten mitzuschreiben, dazu fordert das Vorwort auf: denn nicht alle Texte die z.B. aus der individuellen Sicht einer*eines Lesers*Leserin emanzipatorisches Potential besitzen, oder eine weibliche Sicht repräsentieren, wurden markiert. (S.11)

Ein Mitmachbuch? Zumindest eine Anthologie, die den Dialog offenhalten möchte und dabei reflektiert mit der eigenen Problematik umgeht. Denn hat es die binäre Unterscheidung in (Männer vs.) Frauen-Lyrik nötig und reproduziert sie nicht den Gedanken, dass es eine voneinander zu differenzierende männliche und weibliche Lyrik gäbe? Hiergegen setzt der horizontale Strich im Titel ein Zeichen.

Die Anthologie ist keine als Frauenbuch vermarktete Sammlung gedacht, sondern als (noch?) notwendiges Signal, das sich gegen die Tradierung qualitätvoller Lyrikproduktion und des Lyrikbetriebs als überdimensional männlich stellt. Gleichzeitig wird hier versammelt, was in Besprechungen, Buchlisten, vorangegangene Anthologien, in wissenschaftlichen Abhandlungen, Lehrwerken und nicht zuletzt Schullektüren unterrepräsentiert und nicht wahrgenommen ist: eine vielstimmige, erfrischende und rundum lesenswerte Lyrik-Auswahl. Und falls Sie sich die Frage schon gestellt haben: Ja, es sind auch männliche Stimmen vertreten – wenn diese weibliche Perspektiven in ihren Werken abzubilden versuchten.

„Frauen I Lyrik“ versteht sich nicht als abgeschlossen und versiegelt. Im Gegenteil, über den Rand hinaus verweisen die dargestellten Werke auf die Tatsache, dass Lyrik immer auch in einem engen Dialog mit ihrer Gegenwärtigkeit steht. So etwa in dem letzten angeführten Gedicht: einer Fotografie der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin, auf der Barbara Köhlers Lyrik das umstrittene Eugen Gomringer-Gedicht „avenidas“ ablöste.
Oder in Safiye Cans Antwortgedicht auf Hans Gysis „dichter“, das nun abschließend den Monat des Weltfrauentages beglänzen soll:


„Dichterinnen“

[…]
Dichterinnen schlecken Schlumpfeis
tragen übergroße Brillen
epilieren sich die Beine
und rauchen Gras.

Sie schreiben in der U-Bahn
sie schreiben in der S-Bahn
sie schreiben auf der Rolltreppe
sie schreiben beim Gehen
sie schreiben in der Badewanne.
Wenn sie nicht schreiben,
denken sie nach:

[…]
Dichterinnen sind unbeliebt
im Finanzamt
Dichterinnen werden beweint
wenn sie tot sind
und nicht mehr dichten
lang leben die Dichterinnen!

(S. 740)

Iris Gassenbauer

 

 

Lese-Tipps im Februar 2024

Verena Rossbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen.
Kiepenheuer & Witsch 2022

Zuerst knackt der Zartbitterschokoladenmantel unter den Schneidezähnen, dann verteilt sich der Likör samt „Piemont“-Kirsche über die Zunge und hinterlässt ein sanftes, warmes Kribbeln hinter dem Brustkorb. Und auch, wenn kein Mensch bisher an einem Piemontkirschenbaum vorbeigekommen wäre (dabei müsste es bei 130 Millionen Kilogramm verzehrter Pralinen pro Jahr doch ganze Urwälder davon geben!), löst Mon Chéri im Gegensatz zum leistungssteigerungsorientierten Mutterkonzern-Bruder Pocket Coffee die nostalgisch verwaschene Vorstellung von Italo-Hügeln und mondäne Romantik aus.

Geschmacksknospen auf salzig und süß

Mon Chéri, dieses süßklebrige Wunderding der Sechziger, stellt nicht nur einen erheblichen Bestandteil des Speiseplans der Anfangsvierzigerin und Protagonistin Charly Benz in Verena Rossbachers Roman dar, sondern wird auch titelgebend. Wie die Likörpraline allerdings mit demolierten Seelen zusammenpasst, eröffnet sich erst nach und nach in einem Roman, der auf über fünfhundert Seiten sämtliche Gefühlsregister zu bespielen weiß.

Aber zurück zu Charly Benz, dieser verschusselten Schweizerin, die es nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hat, wo sie Werbung für vegane Müsliriegel und andere Klimakatastrophenverhinderungen bei LuckyLili fabriziert und sich trotz aller brillant erdachter Marketing-Strategien vor ihren jüngeren Kolleg*innen ungewollt als Dinosaurier outet, der sich nicht in der schillerndschnellebigen Welt der Instagram- und Tiktok-Trends daheim fühlt.

Das Duckface wird zum Lippenbekenntnis der Unwissenheit, während Charly Benz selbst als textsichere Werbeslogansrezitatorin der 80er und 90er fungiert. Begleitet wird der Monolog der Protagonistin von einem Soundtrack, der ihr köstliches Psychogramm für die Lesenden mit Fußzeilen zu ihrer popkulturellen Verortung erweitert, denn die Musik hatte immer schon eine direkte Auswirkung auf ihr Verlieben. Und auch das Mixtape, das sie der Jugendliebe Dragaschnig damals als verschossene Teenagerin anonym bis auf den aufreizenden Hinweis: Let’s spend the night together. C. (S.312) zugesteckt hatte, taucht an späterer Stelle wieder auf, als besagter Dragaschnig die Kassette samt extra hierfür beschafftem Kassettenrekorder zur Aktion bringt. So erfüllt sich Jahre später mit musikalischer Untermalung der Plan der pubertären Charly:

Ich hatte damals gedacht: Ich liebe den Dragaschnig und  der Dragaschnig liebt mich, und wenn er mich noch nicht ganz so fest liebt, wie ich ihn, dann tut er es, nachdem er meine Mixtapes gehört hat. (S.312).

Gleichzeitig strudelt das Leben der Charly Benz in Richtungen, wohin es die äußeren Einflüsse lenken. Weil das Briefe-Öffnen zur unerträglichen Belastungsprobe wird, wird der Dienst des Postengels Schabowski – Verzeihung – Herrn Schabowski in Anspruch genommen und etwas Struktur in dem kreativen Durcheinander aus Feiertagszigaretten, Notfallssilvesterfeiern und dysfunktionalen Fahrrädern als Quasitransportmittel der Wahl installiert. Bis, ja bis auch hier das Unerwartete einbricht, das hinter jeder Ecke des Lebensweges lauert: Schabowski ist krank, soviel darf gespoilert werden, richtig krank.
Und Charly Benz ist bereit, an der Seite des Postengels Klangschalentherapien und Aufmerksamkeitsmeditationen zu durchsitzen, Räucherstäbchenduft und Nikotinkaugummis inklusive.

Gipfelstürmer und die Erbschaft der Vergangenheit

Dann aber sind neben Herrn Schabowski noch andere Männer im Leben der Charly Benz, die gegen den Routinenalltag wirken und in der Form einer verschwärmten Jugendliebe (der Dragoschnig), eines Kulturjournalisten (Hans Hänse Quandt) und eines Akademikernachbarn (Mo Gabler) ihren Auftritt haben. Und natürlich ist da auch der Don, der Vater, der geht und kommt wie es ihm beliebt und der schlussendlich ganz verschwindet und nicht mehr zurückkehrt, weil er aus dem Leben scheidet – der zweite (und – versprochen – letzte) Spoiler dieser mitteilungsbedürftigen Rezension. Sie alle werden zu Platzhaltern in der Familienaufstellung, dieser therapeutischen Planlegung, die doch eigentlich die wahre Basis des Romans zu sein scheint. Denn im ewigen Versuch, zu durchblicken, welche Ansprüche das Leben an uns stellt, wechseln Familienmitglieder und Platzhalter ihre Positionen und sorgen für immer neue Voraussetzungen.

So mischt sich schließlich Bad Gastein ins Dreiländereck der Lebensmittelpunkte der Protagonistin und mit ihm ein vererbtes Hotel, abgehalftert und nur noch ein Nachhall jener Belle Époque, die früher einmal den Kurort in Salzburg geprägt hatte.

Dorthin, wo verschlungenerweise auch die Wurzeln des Dons liegen, verlagert sich schließlich auch die Handlung; ein Abwandern im großen Stil, denn nicht nur Charly Benz und ihr Postengel landen in der österreichischen Bergwelt, die erweiterte Familie samt Männerverstrudelungen und der in Charly Benz heranwachsenden Auswirkung findet sich ein.

Was dort geschieht?
Superlativen natürlich. Es wird auf das Leben gewartet. Und auf den Tod. Auf das Kommen und das Gehen.

Die Kunst der Hyperbel

Wie es Verena Rossbacher gelingt, einen Roman zu komponieren, der in seiner Vielschichtigkeit nicht in unerträglicher Handlungsüberladung endet, ist ihrer Erzählkunst zu verdanken. Während nämlich auf der einen Seite die Ereignisse einander ebenso nachhasten, wie Namen und Figuren auf die Lesenden losgelassen werden, bleibt alles durch die Ich-Erzählerin ein organischer Bestandteil der erzählten Lebensrealität.
Auf diese Weise sind wir geneigt, die Grillen zu akzeptieren, die die Protagonistin über Andere offenbart oder auch ihrem eigenen Ausufern mit Neugierde zu folgen. Dieses Ausufern wird natürlich durch den Postengel Herrn Schabowski entlarvt und thematisiert, bevor Literaturkritiker*innen zum Schachzug kommen könnten:


„Meine Liebe, ich muss Sie einmal mehr darauf hinweisen, dass Sie übertreiben – wirklich, Sie überzeichnen sich -. Was soll das bringen, dass Sie sich selbst immer wieder darstellen, als wären Sie die Protagonistin einer schlechten Sitcom?“ (S.167)


Charly Benz übernimmt die Verteidigung selbst in diesem Roman, der die Gedanken seiner Hauptfigur generös ausbreitet und bei einem Hang zur Oralität mitunter an Erzählerfiguren wie aus Wolfs Haas‘ Brenner-Romanen gemahnt. An dieser Stelle aber beruhigt sich die Protagonistin und ihr Erzählfluss siedet auf umsichtige Reflexion zusammen:


Kann schon sein, Herr Schabowski, kann schon sein, dass ich da und dort ein bisschen übertreibe, aber es ist doch so: Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass ein Mann mit ähnlich zerpflücktem Äußeren wie ich durchaus eine gewisse charmante Attraktivität entfalten kann, man schließt aus den zahlreichen Kalamitäten auf eine gute Portion Humor und das ist schön, denn vor einem Mann mit Humor muss man sich nicht fürchten und hat viel Spaß. Interessanterweise nützt einer schönen Frau Humor überhaupt nichts, vermutlich, weil er der natürliche Feind der Anmut ist. Und das war haargenau mein Problem.“ (S. 167f.)

Stimmt es, dass es Charly Benz an charmanter Attraktivität fehlt? Das liegt am Ende wohl in den Augen der Leser*innen. Vielleicht ist sie den einen zu laut und schräg, den anderen zu mühsam, wenn sie vier narrative Umwege samt Ehrenrunden nimmt, bevor wir (und mit uns Hans Hänse Quandt) endlich erfahren, warum sie bei Stichwort Leonard Cohen an ihre Tante Vivienne denken muss.

Dann aber wieder perlen aus dem Erzählstrom der Protagonistin Erlebnisse und Gefühle, die einen komplexen Charakter mit narrativem Fleisch füllen und dabei zwischen Humor und Ernsthaftigkeit changieren, zwischen dem Begrüßen des neuen Lebens und dem Akzeptieren der Tatsache, dass am Ende eben das Ende steht.
Große Themen in leichtfüßige Schwere gewebt, eingepackt in das rosa Stanniolpapier der Mon Chéri Pralinen.

Der Nachgeschmack ist warm und zartbittersüß.

 

Iris Gassenbauer

 

 


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Online-Tipps

 

Lyrik am Mittag

Zum Mittagessen kommt hier neben einem Butterbrot, einer schnellen Portion Nudeln mit Gemüse oder einer wärmenden Suppe auch ein Häppchen Lyrik mit auf den Tisch! Die Sendung „Lyrik am Mittag“ des SRF sendete eine tägliche „Ration an formvollendeten Gedanken. Lyrik aus der ganzen Welt - Original mit den Stimmen der Autorinnen und Autoren und in deutscher Übersetzung“ Nachzuhören im Audio & Podcastpool des SRF. Ein köstlicher Aperitif, der auch zum Betthupferl umfunktioniert werden kann.


Im Februar-Online Tipp geht es also um originale Stimmen aus aller Welt und um die Vielseitigkeit und das große Spektrum, das Lyrik in sich trägt. Wir wünschen viel Vergnügen damit!


Hier geht’s zum lyrischen SRF Podcast: Lyrik am Mittag - Audio & Podcasts - SRF

 

 


 

Kanal für Poesie

Poetische Filme zelebrieren, Lyrik mit Autor*innen im Schaufenster betrachten oder mit der Podcast-Reihe „Nach dem Gedicht / After the Poem“ in den Ohren den Tag verbringen – das alles und mehr bietet der Kanal für Poesie vom Haus für Poesie (vormals literaturWERKstatt berlin).


Wir möchten Sie im Jänner dazu einladen, die vielseitigen Angebote des Kanals für Poesie zu erkunden – von Autor*innenreflexionen über das Selbst im Gedicht und die Schreibenden, die zuvor kamen bis hin zu Besprechungen konkreter Gedichte überraschen die Inhalte in ihrer Möglichkeit der Vertiefung. Wir wünschen anregende Entdeckungen und spannende poetische Fundstücke!


Hier geht’s zum Kanal für Poesie: https://www.kanalfuerpoesie.org/

 

 


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