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Lese-Tipp im Oktober 2025

Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell, Carlsen Verlag 2025

Trübsal gibt es in vielen Lautstärken. Und in vielen Farben, möchte man anfügen, in Kornelkirschblütengelb und Kornelkirschfruchtblutrot, im Tantenliedschattenblau und im Federhaarweiß des Großvaters, der doch eigentlich schon längst, längst hätte tot sein müssen. Zumindest halbtot ist er, als die Familie auf einen das Trübsal anteasernden Brief hin an seinem Bett zusammenkommt, im Großvaterhaus in Kamp-Cornell, diesem Kaff außerhalb jeglicher Zivilisation. Die Familie, das sind die Tanten und die unweigerlich mit in die Misere geschleppten Cousins und Cousinen, die sich in einer neufamiliären Zweckgemeinschaft in dem knackenden und knirschenden Haus mit dem tropfenden Wasserhahn zusammenraufen müssen, Eigenheiten inklusive.

Dass etwas nicht ganz gerade ist im gelbblühenden Kaff und dem lärmenden Haus, dringt aus jeder verschwurbelten Situation der Erzählung; aus den Reisaufläufen mit Kornelkirschenmarmelade, die von den Dorfbewohner*innen mitgebracht werden und früher oder später scherbenreich am Küchenboden landen, aus den Stromausfällen und dem spätnächtlichen Gerumpel des Hauses, aus den schiefgefeilten und überlackierten Fingernägeln, die die Nagelstudiobetreiberin Inge hinterlässt. Und nicht zuletzt aus den CGs, die im ganzen Haus verteilt als rätselhafte Botschaften an die Nachwelt in Wände und Türen geritzt sind, 39 an der Zahl.

Naturgemäß ist man um Aufklärung bemüht – zumindest von Seiten der jungen Generation, während die ältere genau das Gegenteil anzustreben scheint: Vergessen, Vergraben, Hinunterweinen. Aber ganz so einfach lässt sich das Vergangene dann doch nicht in den Keller sperren.

Während Großvater Victor Melitzky nach und nach dem Halbreich der Toten entsteigt und als Poltermann ins Leben der Familie zurückkehrt, trägt der überflüssige Haufen von Cousins und Cousinen, diese ärgerliche Verschwendung von Verwandtschaftszuteilung (S. 97) (so zumindest in den Augen der andersnamigen Cousine Lu Winnefeld), ihre eigenen Grabenkämpfe gegen das Trübsal aus. Da ist Penelope mit den türkisfarbenen Haaren und eine besonnen durch die Szenen watschelnde Hühnergans, da ist Edin mit den Schwitzhänden und Johnny mit der Zwangsstörung, da sind aber auch noch Andrasch der tränenerfüllte Installateur, der Friedhofsgärtner Christian, ja auch die nasenamputierte Büste des Kaffgründers und alle, alle ahnen etwas, das sich erst nach und nach zu einem großen Ganzen fügen lässt. Und als es endlich so weit ist, dass auch wir Lesenden dieses große Ganze zu fassen bekommen, dass wir den Einstieg in den Irrgarten gleich hinter dem Haus und den Knopf gefunden haben, der das Sesamöffnedich aktiviert, sind noch immer nicht alle Fragen zu Ende beantwortet. Man kann ja nicht alles wissen.
((S. 286) Anm. der Autorin des Lesetipps: eine blasphemische Handlung, den letzten Satz eines literarischen Werks zu zitieren, aber in diesem Fall der wohl unspoilerhafteste Satz überhaupt und zugleich so allumfassend passend, deshalb sei es verziehen.)

Nein, Susan Kreller spielt das Spiel des Ungewissen und Unheimlichen lehrmeisterinnenhaft und füttert immer gerade so viel zu, dass sich in den kleinen Geräuschen und Randgesten ein ganz eigener Schauer einnisten kann. Was aber besonders aus dem Text sticht und für die Autorin – die Fanbase weiß das längst – prototypisch ist, ist eine Sprache, die über Konventionen und Gemeinplätze tänzelt, als wären es heiße Kohlen, und dabei ganz neue Bilder erschafft.

Hier auf Satzstrukturen und Kleinstbeobachtungen aufmerksam zu sein, lohnt sich sehr. Das mag die Lektüre verlangsamen (was nicht zuletzt auch an einer Erzählung liegt, die es nicht eilig hat, vom Fleck zu kommen), es bereichert sie aber zugleich ungemein. So entsteht in der Mehrperspektivität des Erzählens, in den nicht ganz geradelaufenden Narrationen und dem angeschnörkelten Beiwerk, das Kreller so geschickt um die Handlungsstränge windet, der Eindruck, die eigentliche Nachricht als kleines Geheimnis zu entdecken. Das Herz der Lektüre liegt somit nicht auf den Lippen, sondern hinter den Weisheitszähnen, stets ein wenig im Verborgenen. Wer sich dem Erzähltempo anpasst und mit staunendem Blick folgt, wird darin aber – anders als Cousins und Cousinen, Tanten, Gärtner, Nagelstudiobetreiberinnen und Installateure – das Glück finden.

iris gassenbauer

 

 

 


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