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Lese-Tipp im September 2025


Marlene Streeruwitz: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. S. Fischer 2014

Cornelia ist zu spät. Zu spät für die Fähre, die sie nach Athen bringen soll, zu Marios, dem jungen Rebellen, zur Demo gegen die Verhaftung vermeintlich illegaler Sexarbeiterinnen. Cornelia verpasst also den Anschluss und verpasst zugleich den geplanten Ablauf einer anarchistischen Intervention im fremden Land. Dafür beginnt die Stücklung einer Reise, die zwischen Odyssee und Roadmovie liegt. So wird ihr nach der verpassten Fähre eine (von vielen) Mitfahrgelegenheit angeboten und das scheinbar umsonst.


Es würde nichts kosten, „it would be for free“, und ich könnte in der Nacht in Athen sein, sagte der Mann. Mit der Fähre konnte ich auch nicht früher da sein, und ich schaute wahrscheinlich deswegen interessiert drein. Der Mann redete gleich so dringlich weiter und pries das Segelschiff an und die Skipper, und ich bekäme einen Segeltörn umsonst. Ich musste lachen. Was sollte das denn sein, eine kostenlose Segelpartie? So etwas gab es doch nicht. Doch, doch, sagte der Mann und lachte auch. Es gäbe Wunder auf dieser Welt, und diese Möglichkeit sei eines.
                (S. 50)

Cornelia nutzt die Chance gegen ihr Bauchgefühl, schifft live in eine dubiose Güterübergabe, fühlt sich recht unwohl und verlässt Bord über die Reeling. So folgt Mitfahrgelegenheit nach Mitfahrgelegenheit und so folgt auch eine Begleitfigur nach der anderen. Es sind Frauen, mit denen die knapp 18-Jährige Solidarisierung findet – auch wenn dies nur holprig vorangeht und schlussendlich die Reise doch noch gelingt. In Athen aber ist Marios, der Anarchist, noch immer nicht zu finden, dafür gerät Cornelia in die Wirren und die plötzlich gewaltvolle Realität der Demonstration. Da wabert Tränengas, da packen Polizisten ein bisschen gröber zu als notwendig, da fällt schließlich auch für Cornelia eine Gefängniszellentür ins Schloss. Am Ende löst sich dann doch alles wieder. Cornelia bleibt freie und wenig bedeutende Tourist-Anarchistin, Marios hingegen wird als Unfallopfer in den Wirren der Demo in die Arbeitsunfähigkeit gedrückt. Krankenversicherung, soziales Auffangnetz, Kostenübernahme Fehlanzeige. Der Ernst der finanziellen Notlage eines hochverschuldeten Landes drückt sich durch die Erzählung aus, durch die Cornelia aus Beobachterin gleitet, und verdichtet sich zum Ende hin, als die eigene Odyssee ausgelaufen ist. Ich bemühe mich, an ein Wunder zu glauben, aber das wird manchmal sehr schwer, reüssiert Cornelia, die den gesamten Roman hindurch als mundartige Ich-Erzählerin ihre Abenteuer rückblickend zu relativieren versucht. So drastisch, so gefährlich, so ernst wären die Situationen ja wohl eh nie gewesen, aber sie habe aus plötzlicher Angst überreagiert oder ihrem Bauchgefühl einen Vorzug gegeben.


Das ist die Story. So richtig interessant aber wird die schwummrige Abenteuerfahrt erst, wenn über den reinen Text hinausgeblickt wird. Am Cover des Romans heißt es nämlich: Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn. Wer sich hiervon nicht irritiert fühlt, übersieht ein literaturproduktionstechnisch bedeutendes Detail in der Genese des Romans: Nelia Fehn ist nämlich selbst eine Romanfigur, die in Marlene Streeruwitz' „Nachkommen“ mit ihrem Erstlingswerk auf die Frankfurter Literaturmesse geschickt wird. Als Aufdeckerroman, als Abgesang auf den gegenwärtigen Literaturbetrieb angelegt, ist „Nachkommen“ im für Streeruwitz typisch knappen Stakkatostil geschrieben. Für „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ tauscht Marlene Streeruwitz aber nicht nur den Namen, auch der Stil des Romans wird zum plappernden, direkt-naiven Erzählwerk der Nelia Fehn. Alles nur Show?


Marlene Streeruwitz hat Humor, das muss man ihr lassen. Wie sonst lässt sich dieser Metaroman erklären, der zwischen ihrer Autorinnenschaft und der Autorinnenschaft ihrer eigenen Romanfigur angesiedelt eine Geschichte erzählt, die für sich selbst stehen kann und gleichzeitig ja doch eine Schreibübung ist? Spaß macht die Lektüre trotzdem, wenn Cornelia von einer verhinderten Weiterfahrt in die nächste gerät und nebenbei die Geschichten ihrer Mitreisenden und kurzfristigen Begleiterinnen als Psychogramme einer dysfunktionalen Gesellschaft skizziert. Denn das gelingt der Erzählerin in gewohnter Beobachtungsgabe – wohlgemerkt – in von der Autorin hinter der Autorin gewohnt. Marlene Streeruwitz lässt sich nicht aus diesem Romanexperiment hinausleugnen und das ist auch wunderbar so.   

iris gassenbauer

 

 


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