Literarische Kurse
Fernkurs-Tipps

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Lese-Tipp im April & Mai 2023

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Stuttgart: Klett-Cotta 2023

Nein, das waren keine Menschen mehr, es war eine Masse. Grobkörnig war dieser Zug und doch ganz uniform. Etwas gestern noch Mannigfaltiges war vom Gewicht des darauf abgestellten Sommertags zusammengepresst wie von einem kosmischen Glasblock.

Dass Raphaela Edelbauer eine der großen Romancièren der österreichischen Gegenwartsliteratur ist, hätte wohl schon seit ihren letzten Publikationen »Das flüssige Land« (2019) und »Dave« (2021) niemand mehr anfechten wollen. Wie derzeit kaum ein*e andere*r schafft sie es, in ihren Texten plastische Sprachwelten zu erschaffen, die gleichermaßen fesseln und verblüffen – so auch in »Die Inkommensurablen«, einem historischen Wienroman, der diese Kategorisierung ganz neu denken lässt.

Aber von Beginn weg: Am 30. Juli 1914 wartet ganz Wien in größter Erregung auf das Verstreichen des deutschen Ultimatums gegenüber Russland. An diesem Vorabend des Kriegsausbruchs erreicht der 17-jährige Bauernknecht Hans Ranftler mit dem Nachtzug von Tirol aus die Bahnhofshalle der Hauptstadt. Entgegen der Erwartungen, die ihm von den geschmeidig durchs Gemenge manövrierenden Städter*innen entgegengebracht werden, möchte er sich aber nicht dem kollektiven Kriegstaumel der militärischen Mobilmachung anschließen. Vielmehr ist Hans auf dem Weg zur Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cherech, auf deren Annonce er in einer Tageszeitung gestoßen ist. Diese aber vertröstet sein Erstgespräch auf den Folgetag; noch ohne Unterkunft lesen ihn im Vorzimmer die angehende Mathematikerin Klara und der Offizierssohn Adam (ihrerseits beide Patient*innen in der Praxis) auf. Mit ihnen bricht Hans auf in eine über 349 Seiten ausgebreitete Nacht vor der Zeitenwende, die von ihm als Zentrum ausgehend kaleidoskopartig eine Stadt im Ausnahmezustand porträtiert.

Besagtes Kaleidoskop fokussiert Existenzen quer durch die gesellschaftlichen Schichten und auch abseits historisch gut dokumentierter Lebenswelten. Dieser Weitblick gelingt der Autorin durch die Trias ihrer Protagonist*innen: Mit Hans erschreibt sie sich eine Figur, die das bäuerliche aber auch das bürgerliche Leben kennt, Adam ist Spross eines tschechischen Adelsgeschlechts und Klara ist eine akademische Aufsteigerin aus dem Lumpenproletariat. All diese Realitäten werden in ihren sprachlich kunstvoll ausgestalteten Räumen vor der Folie zeitgeschichtlicher Entwicklungen zusammengeführt, wobei vermutlich auch historisch bewandte Leser*innen sich auf teils unbekanntem Terrain wiederfinden werden, wenn etwa die Tätigkeiten feministischer Clubs, queere Lebenswelten oder (wortwörtliche) Lokale im Untergrund zur Sprache kommen. Die Autorin biedert sich in diesem groß gedachten Unterfangen keiner historisierenden Sprachverwendung an, sondern findet ihren eigenen kunstvollen Ton voller überraschender Wortschöpfungen, der ihr erzähltes Wien in seiner Vielstimmigkeit und Vielsprachigkeit erfahrbar werden lässt.

Dass sich Hans, Klara und Adam in dieser Dreierkonstellation vor Helene Cherechs Praxis begegnen, ist überdies kein Zufall. Alle drei sind Träger*innen einer parapsychologischen Gabe. Hans merkt, wie seine Gedanken sich unheimlich gehäuft zwischen ihm und seinen Mitmenschen (in deren Unwissen) übertragen. Adam ist Gefäß fremder Erinnerungen. Klara hat eine zentrale Rolle im sogenannten Säkulumsculster inne. Der Säkulumscluster – das ist das massenpsychologische Phänomen, dessen Erforschung sich Helene Cherech verschrieben hat. Nacht für Nacht finden sich offenbar zahlreiche Menschen, insbesondere aus den Ländern des Kaiserreichs, im immerselben Traum wieder. Alle drei also haben es mit Erfahrungen zu tun, die über ihre Individualität und leiblichen Grenzen hinausgehen. Diese Gaben genauso wie der Cluster sind Varianten des dem Titel entsprechend unfassbaren Motivs der Masse, das in »Die Inkommensurablen« vielgestaltig verhandelt wird. Die Autorin spürt ihren Ausprägungen nach, ihrem Entstehen und ihrer Anziehungskraft, ihren Bewegungen und Handlungen.

In einem beeindruckend lebendig und anschaulich erzählten Wien, zwischen Politik, Psychologie und Verweisen auf zeitgenössische Esoterik, erkundet der Roman die Dynamiken menschlicher Massenphänomene und bleibt dabei trotz unbestrittener Aktualität seinem historischen Interesse treu. Der Text funktioniert als Reflexionsmöglichkeit beider zeitlicher Ebenen wohl gerade deshalb, weil vergleichbare Entwicklungen eben nicht zeitlich oder örtlich gebunden sind. Oder, wie es Adam Hans gegenüber treffend formuliert: Man kann jeden manipulieren, mein Freund, wenn man nur die richtigen Knöpfe findet.

 

Sarah Auer

 



 

 


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Veranstaltungs-Tipp im Mai 2023

Lyrikfestival Dichterloh

Alljährlich im Mai wird die Alte Schmiede in Wien zum Präsentations-, Verhandlungs- und Begegnungsraum zeitgenössischer internationaler Lyrik. Beim Lyrikfestival Dichterloh finden in diesem Sinne (mehrsprachige) Lesungen, Filmvorführungen und Gespräche wie eine Rundschau lyrischen Schaffens in der Gegenwart eine Bühne. Die Abende stehen dabei unter verschiedenen – dabei aber offen erkundenden – Motti. So kommen am 11. Mai etwa überschrieben durch »Poetopolitische Gesellschaft-Körper-Grenz-Erforschung« die Dichter Fiston Mwanza Mujila und Paul-Henri Campell, der Musiker Patrick Dunst und ein FIlm von Juliana Kaminskaja zur Lyrikerin Marina Zwetajewa zusammen.

Auf diese Weise entstehen Assoziationen und Möglichkeiten zum Austausch, die sich lyrischem Schaffen in seiner Individualität und gemeinsamen Zeitgebundenheit gleichermaßen annähern. Kuratiert wird das Festival auch in diesem Jahr von dem Literaturwissenschaftler und Autor Michael Hammerschmid, der die produktiv fragende Haltung der Veranstaltungsreihe 2020 so umrissen hat:

Woher kommen Gedichte? Woher beziehen sie ihre Energie? Wohin wagen sie sich? Welche Mittel verwenden sie, und wie verwenden sie diese? Mit welchen Biographien, Zeiten, Gesellschaften und Kulturen treten sie in Beziehung? Welche Kritik formulieren sie und welche Utopien realisieren sie? Und was machen sie mit uns und mit unserer Sprache?

Termine: 2. bis 15. Mai 2023
Eintritt frei

Alte Schmiede
Schönlaterngasse 9
1010 Wien

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