Hier finden Sie vom Team der Literarischen Kurse zusammengestellte Informationen und Hinweise rund um den aktuellen Fernkurs »lyrikLESEN«:
- Medien- und Lese-Tipps,
- ausgewählte Veranstaltungshinweise,
- sowie Links in die (benachbarte) Bücherwelt.
Frauen I Lyrik In der Regel kann ein Reclam-Heft bequem in die Manteltasche gesteckt werden, wo es sich an den Oberschenkel schmiegt und nicht weiter auffällt. Dieser Versuch ist im Falle von „Frauen I Lyrik“ zum Scheitern verurteilt: Es ist ein monströser Reclam-Riese in dem sich 1055 Seiten zu 4,5 cm Gelbheit bündeln und in dem 500 Gedichte aus einem Jahrtausend ihren Platz finden. Und es ist eine Anthologie, die sich freigestrampelt hat von der Vorstellung, dass die große und wertvolle, die kanonwürdige und durch die Jahrhunderte in Schleife rezipierte Lyrik ganz selbstverständlich aus Männerköpfen stammt. So formuliert Anna Bers, Herausgeberin der Anthologie und Literaturwissenschaftlerin an der Georg-August-Universität Göttingen, im ebenso umfassenden Nachwort: Hiergegen arbeitet „Frauen I Lyrik“ an. Chronologisch geordnet liegen die Gedichte mit dem Öffnen des Bandes vor uns Lesenden, so können spannende Kontraste, Lücken, Brüche, Dialoge und Fragen entstehen (S.7). Und tatsächlich führt die Lektüre durch die Jahrhunderte an Verkettungen oder auch Bruchstellen entlang, etwa wenn sich Nelly Sachs „Chor der Geretteten“ eben noch mit der Bitte: vor Ilse Schneider-Lengyels „Gott der Schläge“ reiht und dieser direkt in die Mitte der Geretteten die Peitsche zu schnalzen scheint:
Nicht nur aus der Chronologie heraus lässt sich „Frauen I Lyrik“ erlesen; die Anthologie bietet darüber hinaus vier Perspektiven, die eine differenzierte Lektüre ermöglichen: Kanonbildung, Epochentypisches, Emanzipatorisches und die Verortung eines weiblichen Ichs beziehungsweise einer „weiblichen“ Stimme sind hier ordnungsgebend. Diese perspektivische Orientierungshilfe wird in einer Punkte-Symbolleiste abgebildet, die eine schnelle Zuordnung ermöglicht. Selbstständig an den jeweiligen Symbolleisten mitzuschreiben, dazu fordert das Vorwort auf: denn nicht alle Texte die z.B. aus der individuellen Sicht einer*eines Lesers*Leserin emanzipatorisches Potential besitzen, oder eine weibliche Sicht repräsentieren, wurden markiert. (S.11) Ein Mitmachbuch? Zumindest eine Anthologie, die den Dialog offenhalten möchte und dabei reflektiert mit der eigenen Problematik umgeht. Denn hat es die binäre Unterscheidung in (Männer vs.) Frauen-Lyrik nötig und reproduziert sie nicht den Gedanken, dass es eine voneinander zu differenzierende männliche und weibliche Lyrik gäbe? Hiergegen setzt der horizontale Strich im Titel ein Zeichen. Die Anthologie ist keine als Frauenbuch vermarktete Sammlung gedacht, sondern als (noch?) notwendiges Signal, das sich gegen die Tradierung qualitätvoller Lyrikproduktion und des Lyrikbetriebs als überdimensional männlich stellt. Gleichzeitig wird hier versammelt, was in Besprechungen, Buchlisten, vorangegangene Anthologien, in wissenschaftlichen Abhandlungen, Lehrwerken und nicht zuletzt Schullektüren unterrepräsentiert und nicht wahrgenommen ist: eine vielstimmige, erfrischende und rundum lesenswerte Lyrik-Auswahl. Und falls Sie sich die Frage schon gestellt haben: Ja, es sind auch männliche Stimmen vertreten – wenn diese weibliche Perspektiven in ihren Werken abzubilden versuchten. „Frauen I Lyrik“ versteht sich nicht als abgeschlossen und versiegelt. Im Gegenteil, über den Rand hinaus verweisen die dargestellten Werke auf die Tatsache, dass Lyrik immer auch in einem engen Dialog mit ihrer Gegenwärtigkeit steht. So etwa in dem letzten angeführten Gedicht: einer Fotografie der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin, auf der Barbara Köhlers Lyrik das umstrittene Eugen Gomringer-Gedicht „avenidas“ ablöste.
Iris Gassenbauer |
||
Lese-Tipps im Februar 2024 Verena Rossbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Zuerst knackt der Zartbitterschokoladenmantel unter den Schneidezähnen, dann verteilt sich der Likör samt „Piemont“-Kirsche über die Zunge und hinterlässt ein sanftes, warmes Kribbeln hinter dem Brustkorb. Und auch, wenn kein Mensch bisher an einem Piemontkirschenbaum vorbeigekommen wäre (dabei müsste es bei 130 Millionen Kilogramm verzehrter Pralinen pro Jahr doch ganze Urwälder davon geben!), löst Mon Chéri im Gegensatz zum leistungssteigerungsorientierten Mutterkonzern-Bruder Pocket Coffee die nostalgisch verwaschene Vorstellung von Italo-Hügeln und mondäne Romantik aus. Geschmacksknospen auf salzig und süß Mon Chéri, dieses süßklebrige Wunderding der Sechziger, stellt nicht nur einen erheblichen Bestandteil des Speiseplans der Anfangsvierzigerin und Protagonistin Charly Benz in Verena Rossbachers Roman dar, sondern wird auch titelgebend. Wie die Likörpraline allerdings mit demolierten Seelen zusammenpasst, eröffnet sich erst nach und nach in einem Roman, der auf über fünfhundert Seiten sämtliche Gefühlsregister zu bespielen weiß. Das Duckface wird zum Lippenbekenntnis der Unwissenheit, während Charly Benz selbst als textsichere Werbeslogansrezitatorin der 80er und 90er fungiert. Begleitet wird der Monolog der Protagonistin von einem Soundtrack, der ihr köstliches Psychogramm für die Lesenden mit Fußzeilen zu ihrer popkulturellen Verortung erweitert, denn die Musik hatte immer schon eine direkte Auswirkung auf ihr Verlieben. Und auch das Mixtape, das sie der Jugendliebe Dragaschnig damals als verschossene Teenagerin anonym bis auf den aufreizenden Hinweis: Let’s spend the night together. C. (S.312) zugesteckt hatte, taucht an späterer Stelle wieder auf, als besagter Dragaschnig die Kassette samt extra hierfür beschafftem Kassettenrekorder zur Aktion bringt. So erfüllt sich Jahre später mit musikalischer Untermalung der Plan der pubertären Charly: Ich hatte damals gedacht: Ich liebe den Dragaschnig und der Dragaschnig liebt mich, und wenn er mich noch nicht ganz so fest liebt, wie ich ihn, dann tut er es, nachdem er meine Mixtapes gehört hat. (S.312). Gleichzeitig strudelt das Leben der Charly Benz in Richtungen, wohin es die äußeren Einflüsse lenken. Weil das Briefe-Öffnen zur unerträglichen Belastungsprobe wird, wird der Dienst des Postengels Schabowski – Verzeihung – Herrn Schabowski in Anspruch genommen und etwas Struktur in dem kreativen Durcheinander aus Feiertagszigaretten, Notfallssilvesterfeiern und dysfunktionalen Fahrrädern als Quasitransportmittel der Wahl installiert. Bis, ja bis auch hier das Unerwartete einbricht, das hinter jeder Ecke des Lebensweges lauert: Schabowski ist krank, soviel darf gespoilert werden, richtig krank. Gipfelstürmer und die Erbschaft der Vergangenheit Dann aber sind neben Herrn Schabowski noch andere Männer im Leben der Charly Benz, die gegen den Routinenalltag wirken und in der Form einer verschwärmten Jugendliebe (der Dragoschnig), eines Kulturjournalisten (Hans Hänse Quandt) und eines Akademikernachbarn (Mo Gabler) ihren Auftritt haben. Und natürlich ist da auch der Don, der Vater, der geht und kommt wie es ihm beliebt und der schlussendlich ganz verschwindet und nicht mehr zurückkehrt, weil er aus dem Leben scheidet – der zweite (und – versprochen – letzte) Spoiler dieser mitteilungsbedürftigen Rezension. Sie alle werden zu Platzhaltern in der Familienaufstellung, dieser therapeutischen Planlegung, die doch eigentlich die wahre Basis des Romans zu sein scheint. Denn im ewigen Versuch, zu durchblicken, welche Ansprüche das Leben an uns stellt, wechseln Familienmitglieder und Platzhalter ihre Positionen und sorgen für immer neue Voraussetzungen. Die Kunst der Hyperbel Wie es Verena Rossbacher gelingt, einen Roman zu komponieren, der in seiner Vielschichtigkeit nicht in unerträglicher Handlungsüberladung endet, ist ihrer Erzählkunst zu verdanken. Während nämlich auf der einen Seite die Ereignisse einander ebenso nachhasten, wie Namen und Figuren auf die Lesenden losgelassen werden, bleibt alles durch die Ich-Erzählerin ein organischer Bestandteil der erzählten Lebensrealität.
Stimmt es, dass es Charly Benz an charmanter Attraktivität fehlt? Das liegt am Ende wohl in den Augen der Leser*innen. Vielleicht ist sie den einen zu laut und schräg, den anderen zu mühsam, wenn sie vier narrative Umwege samt Ehrenrunden nimmt, bevor wir (und mit uns Hans Hänse Quandt) endlich erfahren, warum sie bei Stichwort Leonard Cohen an ihre Tante Vivienne denken muss. Der Nachgeschmack ist warm und zartbittersüß. Iris Gassenbauer |
_______________________________
Lyrik am Mittag Zum Mittagessen kommt hier neben einem Butterbrot, einer schnellen Portion Nudeln mit Gemüse oder einer wärmenden Suppe auch ein Häppchen Lyrik mit auf den Tisch! Die Sendung „Lyrik am Mittag“ des SRF sendete eine tägliche „Ration an formvollendeten Gedanken. Lyrik aus der ganzen Welt - Original mit den Stimmen der Autorinnen und Autoren und in deutscher Übersetzung“ Nachzuhören im Audio & Podcastpool des SRF. Ein köstlicher Aperitif, der auch zum Betthupferl umfunktioniert werden kann.
|
||
Kanal für Poesie Poetische Filme zelebrieren, Lyrik mit Autor*innen im Schaufenster betrachten oder mit der Podcast-Reihe „Nach dem Gedicht / After the Poem“ in den Ohren den Tag verbringen – das alles und mehr bietet der Kanal für Poesie vom Haus für Poesie (vormals literaturWERKstatt berlin).
|
_______________________________
>>> Hier finden Sie unsere Link-Sammlung zu verschiedensten Institutionen, Zeitschriften, Plattformen und Webseiten rund um die Themen Literatur, Bücher und Lesen.