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Lese-Tipp im Dezember 2025

Jegana Dschabbarowa: Die Hände der Frauen meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt. Zsolnay 2025


Da ist der Körper der Frau, wie er ihr gehört und wie er ihr nicht gehört. Wie und wozu er ist. Und: wozu er nicht ist. Zum Schreiben ist er nicht. Zum Sprechen ist er nicht. Zum Freitun, Für-sich-selbst-Tun und zum Wehren ist er nicht.


Da sind die Augenbrauen, die Haare, der Hals, da ist Rücken, Mund, Schultern und da sind die Hände der Frauen, die Essen auftragen sollen und Arbeit verrichten und nur an Hochzeitsfesttagen goldringgeschmückt und manikürt tanzen dürfen. Schreiben sollen sie nicht, diese Hände der Frauen aus der Familie der aserbeidschanischen Ich-Erzählerin, die in Russland als Minderheit den Stand des Außenbleibens haben. Reden soll der Mund nicht und schweigen soll er über die Gewalt, die dem Rücken, den Schultern und dem Hals der Frauen angetan.


In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, war jeder noch so kleine Winkel von Blicken durchbohrt […] Das Erste, was uns Mutter sagte, sobald wir laufen und über die Schwelle des Elternhauses zu treten gelernt hatten: Alles hat Augen. Und weswegen müssten wir immer auf uns achten, darauf wie andere uns sahen, weil wir nicht bloß die geliebten Kinder unsere Eltern waren, sondern auch ihr Kapitel, ihr Ruf, ihre Ehre, ihr Gesicht.
(S. 31)


Allgegenwärtig sind diese Blicke also, und wertend sind sie auch – gleichzeitig lenkt die Erzählerin auch unseren lesenden Blick auf die Wanderkarte des Körpers der aserbeidschanischen Frauen und kuratiert ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Kapitelweise werden wir selbst zu Zeug*innen der Fremdbestimmung und der ständigen Verfügbarkeit, die Konstanten im Frauenalltag ausmachen. Verfügbar für Arbeit, verfügbar für Eifersucht der Ehemänner, verfügbar für den Tratsch der anderen.


So erzählt sich die Protagonistin durch die Körperabschnitte und zugleich durch eine Kulturgeschichte vernarbter Körperlichkeit. Von verfestigten Routinen häuslicher Gewalt und geheimgehegter Freuden der Frauen unter sich, vom Ducken und Aufrichten ihrer Mutter und Großmütter, von den Tanten und den Kinderbäuchen und von sich selbst und dem eigenen, kaputten Körper, der an Dystonie erkrankt ist und mehr und mehr versteift. Zwischendurch lockert sich der Blick auf die Allgegenwart des begrenzten Körpers und tauscht Platz mit dem Zurückerinnern der Vorfahrinnen:


Wegen des Krebses hatte Großmutter oft Hitzewallungen, es schnürte ihr die Kehle zusammen, sie öffnete im kleinen Schlafzimmer alle Fenster und legte sich auf den Fußboden davor; manchmal, wenn der Schmerz sie nachts plagte, ging sie auf den Balkon und betrachtete den georgischen Himmel. Der georgische Himmel ist schöner als alles, was ich je gesehen habe; Die große Pupille des Vollmondes hing tief über der Erde, und es war, als brauche man nur hochzuhüpfen, um sie mit dem Finer zu berühren. […] Großmutter betrachtete die Sternkörper in deren Himmelssarg schweigend, sah zu, wie deren funkelnde weiße Sawans aufhörten zu strahlen, sich der Dunkelheit anverwandelten und zum Teil von ihr wurden. Sie wusste, dass dies das Los aller Erdbewohner war, doch es tat ihr leid, dass sie dort keine Kleidung würde nähen können, mit dem Pedal ihrer Nähmaschine klopfend. Im Sarg gab es keine Geräusche, dort kehrte die Sprache zum Schöpfer zurück.
(S. 118)


Die Worte der Erzählerin sind ohne Bedauern und ohne Mitleid; das hat es nicht nötig. Auch wenn sie über die Zerstörung des eigenen Körpers schreibt, bleibt ihr Ausdruck in der abgeklärten Distanz einer Erzählerin gehalten, die weiß, dass es nicht gut ist, wie es ist, die aber auch weiß, dass die Umstände unabänderlich in die Geschichte gestanzt sind. Hadert sie mit ihrem Leben? Vielleicht. Ausdruck findet es nicht, das Urteil überlässt sie uns Lesenden.
Jegana Dschabbarowa, 2023 aus Russland geflohen, erschafft das schmucklose Bild einer Gegenwärtigkeit, das durch großes Talent für Zwischentöne einen gesellschaftlichen Tiefenblick zulässt. Kleinszenen werden durch die Detailbewusstheit ihrer Erzählung vertraut und machen den besonderen Reiz der Lektüre aus, etwa, wenn die Protagonistin erzählt:

Es war ein seltsames Gefühl: erwachsen zu sein und neben einem Elternteil im Bett zu schlafen. Die Körper hatten ihre Leichtigkeit und Bindung eingebüßt, sie wälzten sich behäbig hin und her und versuchten zufällige Berührungen zu vermeiden. Voneinander abgewandt, dachten wir Verschiedenes.
(S. 120)
Hier sammelt sich das Poetische der Sprache, die auch in ihrer Übersetzung aus dem Russischen aus einem soliden Guss gemacht ist.

Iris Gassenbauer

 

 

 


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