Barbi Marković: „Piksi-Buch", Voland & Quist, 2024
Eine Welle geht durch das Stadion, kollektiv wird von der Tribüne geblökt, wenn auf der anderen Seite das bengalische Feuer den Stadionhimmel durchfaucht. Und am Spielfeld fliegen sie dahin, die einen gegen die anderen zehn, hin und wieder rollt einer durch den kurzen Rasen, dann wieder duellieren sich zwei, ein Tritt, ein Zischen, ein Gegen-die-Stange-Schnalzen oder rein ins Netz. Danach wird gefeiert oder brennende Tränen werden nicht hinuntergeschluckt, es wird auf die Spieler geschimpft oder auf das „Wir“ mit Dosenbier angestoßen. Alles nur Klischees, diese Fußballszenarien? Ein bisschen, zugegeben. Aber um durch die Klischees zu tauchen und Fußball auf eine Art und Weise erzählt zu bekommen, wie sie auch den Unsportlichsten und Mannschaftsdesinteressiertesten unter die Haut geht, empfiehlt es sich, Barbi Marković zu lesen.
Die Erzählerin spricht mit uns, direkt und im Plauderton einer Rückschau. Sie heißt uns willkommen im Stadion des Belgrader Akademischen Sportklubs (BASK), wo sie, Barbi Marković, gerade achtjährig geworden, ihren Geburtstag (schon wieder) verbringen muss.
Ich sitze auf den Tribünen und schau dem Rasengeschehen nicht zu. Mit einem durchnässten Taschentuch versuche ich, meine Gräserallergie aufzufangen, bevor die Welt zerfällt und alles im Rotz versinkt. An diesem Tag ist mein achter Geburtstag. Ein Mann hat gerade schlimme Sachen über die Mutter des Schiedsrichters geschrien.
(S. 9)
So vieles öffnet sich in diesen einführenden Worten, was für „Piksi Buch“ programmatisch ist: Hier sitzt die kindliche Autofiktion der in Belgrad geborenen Autorin, alternativlos und im Umwelt grobschlächtiger Sportbegeisterung, alleine, obwohl der Vater sie genau dort sehen will: als großes Sportskind, wie es die Buben sind, die ihren Papas nacheifern. Aber Barbi interessiert sich nicht für das Runde und das Eckige, tut nur gutmütig mit, weil es auch sonst nichts zu tun gibt für sie. Und dann der Vater: Slobodan Marković ist entweder im Sport oder abwesend, blüht auf, wenn der Ball springt und wenn es um die Spieler geht und verschwindet dazwischen aus dem Sichtfeld der Tochter, vergisst sie im Stadion, weil er plötzlich weg muss, um Geschäfte abzuschließen, vergisst später, dass er überhaupt Vater zur Familie ist oder verdrängt es zumindest in dieser Zeit des Brodelns. Heiß ist es, staubig und trocken. Essen ist knapp, eine Gereiztheit liegt auf den Gemütern, ein gespanntes Brodeln, das sich (noch) in Fanbrutalität entlädt. Die Erzählerin beobachtet die Männer, wie sie spielen und wie sie über das Spiel hinaus ihre Regeln der Stärken fortspinnen.
Wenn man lange genug in das Abseits starrt, blickt das Abseits zurück. Wenn man lange genug den Stadionstammgästen ausgeliefert ist, verliert man den Verstand. Sie sind machtlose Charaktere, Alkoholiker, aber sehr gemein. Sie wissen immer, wie sie dich in die Knie zwingen können, wo es wehtut, da stechen sie hinein. Und wenn es gerade niemanden zum Stechen gibt, machen sie so einen Unsinn. Rufen „Abseits“. (S.19)
Die Kleinen skandieren den Großen nach und beten die Spielernamen auch im Schlaf als Mantra der Zugehörigkeit herunter, die Großen raufen sich, schmeißen Gegner über die Balustrade der Tribüne, veranstalten im Maksimir ein gemetzeltes Durcheinander das kein Spiel mehr zulässt. Kräfte und Zugehörigkeiten werden gegeneinander gedrückt, bis Knochen knacken, zuerst aber noch nur am Feld.
In diesem Nochspiel und Dochschonernst am Abend vor dem Krieg parodiert sich die Erzählerin nicht nur durch das, was im Stadion passiert, sondern auch durch ein an mehreren Stellen arg poröses Vater-Tochter-Gewächs. Er spricht von ihr als er, denn [e]s ist unvorteilhaft, eine Tochter zu haben, aber es ist auch unvorteilhaft, eine Tochter zu sein. (S. 20).
Er kommt mit verranztem Frischkäse und einer Tube Zahnpasta angetingelt, als sie wieder einmal auf brauchbare Geburtstagsgeschenke, sozioökonomische Unterstützung und Companionship (S.43) hofft, aber der Zug ist längst abgefahren. Der Vater will, dass sie zwischen ihm und der Mutter vermittelt, die Erzählerin will als Tochter wahrgenommen werden, was die Mutter will, erfahren wir Leser*innen nicht, denn Mütter und Frauen im Allgemeinen sind im Buch ebenso konsequent abwesend, wie der Titelgeber Piski aka Dragan Stojković, Piksi mit den Wunderfüßen, der den Zauberstaub aufwirbelt. Der Staub, der das Mädchen zum Fußballspieler machen soll und den Slobodan Marković als Zeichen seiner Liebe dem windigen Bekannten abkauft, um Barbi damit zu bestäuben.
Magisch ist dieses Element und abgedreht seltsam, so wie es auch Slobodan Marković ist, wie es überhaupt die ganze Erzählung ist, sie sich zwischendurch selbst überholt und von außen betrachtet:
Schön. Schöne Hintergrundinformationen. Schon wirkt die Geschichte frischer. Barbiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii, Barbi Marković, das ist ja unglaublich, im ersten Kapitel, in der 6. Leseminute so ein Treffer. Keine hat so viel gemacht. Meine Güte. Klasse geschrieben. Wie schön ist das denn?! Barbi Marković, eiskalt. Die Einzige, die über Fußball anders erzählt. Sensationell. (S. 14)
Oder später im zweiten Teil des Büchleins, in dem das Spiel Argentinien gegen Jugoslawien in Florenz schrittgenau geschildert wird:
Während der Kollege sich regeneriert, kann ich Sie, eine Leser:innen, über unsere Situation im Wohnzimmer kurz updaten. Slobodan Marković hofft sehr, dass Jugoslawien gewinnt und dass es zu keinem Krieg kommt. (S. 87).
Der Krieg aber wird kommen. Ob Jugoslawien gegen Argentinien im Elferschießen gewonnen hätte oder nicht. Barbi Marković lässt die Vorstimmung auf die kommende Katastrophe heraufdämmern, ohne ihr direkt ins Gesicht zu blicken. Mehr aber lauert sie im Hintergrund eines Textes, der alles verstanden hat: so zu erzählen, dass ein Weglegen des Buches nur in der Halbzeit möglich ist (wenn überhaupt); eine Gesellschaft aus den Augen einer autofiktionalen Jungprotagonistin zu schildern, die zum Glück nicht altklug, sondern kindklug daherkommt; die wenigen Charaktere in ihrer Verdrehtheit greifbar und rillig zu machen und immer ein wenig zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Tatsächlichen zu springen. Der Krieg bleibt außen vor, bis er auf einmal da ist.
Angekündigt hat er sich längst; in den durstigen Männer- und Knabenchören der Tribünen, in den ausgetrockneten Stadionböden, in der Aufgeregtheit der Fußballreporter und den Anbetungen martialischer (Fußball)helden, die für Kraft und Sieg stehen sollen. So kommentiert die Erzählerin für uns Lesende das Vorabendspiel des Zerfalls der Neunzigerjahre im nur scheinbaren Plauderton, nur scheinbar aus der Leichtgängigkeit der Acht-, Neun-, Zehnjährigen.
Am Schluss werden alle weinen.
iris gassenbauer |
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