Literarische Kurse
Fernkurs-Korrespondenz

Hier finden Sie Praxis-Beispiele aus den monatlich eingesandten schriftlichen Arbeiten von Teilnehmer*innen aus vergangenen Fernkursen, die einen Einblick in unseren (durchaus auch kreativen) Austausch mit Literatur geben:

 

Lesebiogramme

das wort beim namen nennen

der kleine noch nicht zehn jahre alte bub ist auf dem heimweg von der schule.
es ist ein schöner herbsttag. die ersten äpfel sind reif.
der apfelbaum neben der ansteigenden straße scheint schon immer da zu sein.
die früchte sind säuerlich süß.
der bub klaubt sich einen apfel, sucht in der frucht nach dem wurmloch, um nicht genau dort hineinzubeißen.
so nebenbei taucht in ihm die frage auf, warum den der apfel in seiner hand einen - nein, genau diesen namen hat: apfel. apfel! apfel?
der vertraute klang birgt etwas fremdes, ein geheimnisvolles, etwas unerklärbares. halblaut spricht der junge das wort vor sich hin, wundert sich über die vertraute bestimmtheit und versucht ein anderes wort.
tisch - das wäre doch auch möglich - und dann alois, so wird sein älterer bruder gerufen.
die worte scheinen beliebig, austauschbar.
doch irgendwer hat sie zu namen erhoben und so eine ordnung geschaffen.
wenn die namen geändert, sie anders zugeschrieben, zugerufen würden?
wenn der bruder nun apfel hieße und der apfel tisch und der tisch straße und …
der bub geht weiter.
zuhause - und viele jahre später - spürt er noch eine seltsame verwirrung, weil wörter zu namen geworden sind.

 

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Analyse der Vater-Sohn-Beziehung in Don DeLillos "Null K"

DeLillo zeigt uns in seinem Roman eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung. Der Sohn hat die Trennung der Eltern nicht verarbeitet. Er hält den Vater für schuldig und erinnert sich im Rückblick an die Zeit, die er alleine mit der Mutter verbracht hat. Im Zuge der Trennung entwickelt er mehrere Ticks, um sich selber deutlich zu spüren.

Ross Lockhart ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, mit sicherem Auftreten, geschliffenen Manieren und perfekt sitzender Kleidung. Jeff will all das nicht sein, was sein Vater verkörpert. So spricht er von sich als „persönlicher Antichrist“ seines Vaters. Jeff lässt sich in kein Schema pressen, geht keiner geregelten Tätigkeit nach und verweigert sich auch dem gängigen Familienmodell.

 


Doch scheint der Vater sich im Laufe der Jahre geändert zu haben. Seine zweite Frau Artis ist wahrscheinlich der Grund dafür. Die Liebe ist nun das Wichtigste in seinem Leben. Da er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann, überlegt er, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Auch Jeff mag Artis, er verehrt sie sogar. Als Ross sich liebevoll an die gemeinsame Zeit mit Artis erinnert, fühlt Jeff noch immer den Schmerz über den Tod der Mutter, den er alleine bewältigen musste. Der Vater fragt zwar, wo er zu dem Zeitpunkt gewesen sei, entschuldigt sich aber nicht bei Jeff.

Ross lässt Artis schließlich alleine gehen und kehrt mit Jeff nach New York zurück. Möglicherweise ist er noch nicht zum Sterben bereit, will seinen Sohn unterstützen und diesen zu seinem Nachfolger machen.

Aber kehren Ross und Jeff wirklich nach New York zurück? Artis hatte zu Jeff gesagt, er solle sie und Ross doch in den Kälteschlaf begleiten. Ist es denkbar, dass er ihrer Bitte Folge geleistet hat? Im zweiten Teil des Buches lernt der Leser den Sohn von Jeffs Freundin Emma kennen, Stak. Dieser erinnert frappierend an Jeff als Kind. Er ist unangepasst und versucht sich wie Jeff früher, die Welt mit Wörtern und Zahlen zu eigen zu machen. In dem Jungen ist eine unerklärbare Wut. Er ist aus einem Waisenhaus in der Ukraine und kennt seine Eltern nicht. In meiner Vorstellung ist er die Reinkarnation von Jeff, während Ross wiederum in Jeffs Gestalt wiederauferstanden sein könnte. Denn DeLillo schreibt, dass der Körper ohne Bedeutung ist, dass in einer neuen Welt, der Geist irgendwo wiedergeboren sein kann. Dann wäre diese Geschichte ein ewiger Kreislauf, denn wieder gelingt die Annäherung von Vater und Sohn nicht.

Während Wut und Trauer bei Jeff zu einer Art inneren Emigration geführt haben, wählt Stak einen anderen Weg. Er zieht in einen sinnlosen, furchtbaren Krieg, in dem die Menschheit sich selber auslöscht.

Am Ende des Buches endet auch die Beziehung von Jeff zu Emma. Er erkennt, dass er sich ihr nicht zeigen konnte, wie er wirklich ist. „Ich wollte, dass sie mich in einer abgeschotteten Umgebung wahrnimmt, unabhängig von den Kräften, die mich geschaffen haben“ (S.276).

Ich habe das so verstanden, dass er nicht in der Lage war, ihr den Rucksack zu zeigen, den er trug. Einen Rucksack, den jeder von uns trägt, da die Vergangenheit immer ein Teil von uns sein wird. Vielleicht hätte es Jeff und Stak geholfen, wenn ihre „Väter“ ihre Wut und Trauer gesehen hätten.
Jeff begleitet zwar seinen Vater auf seinem letzten Weg, kann ihm aber nicht mehr wirklich nahe kommen, denn Ross hat sich bereits vom Leben verabschiedet. Das Fazit des Buches ist für mich, dass nur die Liebe den Tod überdauern kann!

 

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Alternativ-Report zu Margaret Atwoods "Der Report der Magd"

Ich bin nur der Chauffeur

Es war wieder eine Neue gekommen. Eigentlich ist sie nicht gekommen, sie wurde abgeliefert. Von einem Wächter, früher hätte man wohl Polizist dazu gesagt, aber das stimmt auch nicht ganz. Früher gab es diese Art von Beamten einfach nicht. Doch zurück zu der Neuen. Sie war eine Magd. Ihre Tracht, rot mit weißer Sturmhaube, zeigte das eindeutig. Wobei Sturmhaube nicht ganz richtig ist. Es war eher eine Einrichtung, Stürme abzuwehren. Stürme, die durch Blicke wie von mir, also von einem Mann, ausgelöst werden könnten. Sie war aber einzig und allein die „Magd des Herrn“, des Kommandanten.

 


Sie war aber nicht eine Magd, die in der Küche arbeiten musste, oder für Putzarbeiten und andere Hausarbeiten eingesetzt wurde. Sie war eine Magd im biblischen Sinn. So wie bei Abraham, von dem es heißt: „Er hatte zwei Söhne, einen von der Freien und einen von der Magd.“ Sie hatte nur die Aufgabe, anstelle der unfruchtbaren Frau, Kinder zu gebären, vor allem Söhne. Das war zu der Zeit nicht ungewöhnlich. Nicht nur das Alter, wie bei der Frau des Kommandanten, sondern auch die Umweltvergiftung, die Atomunfälle und andere Katastrophen hatten dazu geführt, dass Geburten selten und gesunde Kinder noch seltener wurden.

Dazu muss ich wohl erklären, dass wir uns in Gilead befinden. Einem Staat im Norden Amerikas, in dem vor einigen Jahren eine fundamentalistische Gruppe die Macht an sich gerissen hat und -angeblich, um islamistischen Gruppierungen zuvorzukommen, - eine strenge Diktatur errichtet hat. Der Unterschied zu einem islamistischen Staat liegt aber nur darin, dass anstelle des Korans die Bibel steht. Aber ob Mekka oder Gilead, das eigentlich im Ostjordanland lag, die Glaubens- und Sittenwächter beherrschen das Land. Wie ich selbst zu dieser Staatsform stehe und was ich für eine Aufgabe dabei habe, unterliegt der Geheimhaltung. Fast alles in Gilead ist geheim.

Doch zurück zu unserer neuen Magd. Soweit ich einen Blick unter die „Sturmhaube“ werfen konnte, ist sie hübsch. Wie üblich hat sie ihre Gebärfähigkeit auch schon unter Beweis gestellt, aber was mit ihrem Kind und dessen Vater passiert ist, werden wir wohl nie erfahren. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist allein, dass sie sich so verhält, wie sie es im „Rahel und Lea Umerziehungszentrum“ gelernt hat und sich vollständig unterordnet: Unter das Gesetz, den Willen des Kommandanten und vor allem seiner unfruchtbaren Frau. Denn Gilead braucht Nachwuchs. Da ist jedes Mittel recht, und wenn die monatliche Zeremonie – an der sich die Frau, die Magd und der Kommandant beteiligen – keine Frucht bringt, werde sogar ich als Nothelfer in Betracht gezogen. Nicht offiziell, aber mit Billigung und Nachhilfe der Frau. Das ist für mich nicht schlecht, denn auch solche Dienste werden belohnt. Dabei muss ich sagen, dass es mir nicht schlecht geht, denn als Fahrer des - natürlich staatseigenen – Wagens bin ich sozusagen die Verbindungsstelle zur Außenwelt. Wobei darunter vor allem der Schwarzmarkt zu verstehen ist. Denn auch im streng biblischen Gilead gilt die heidnische Regel: quod licet Jovi, non licet bovi. Also besorgt Nick die Zigaretten für die Frau und den Whisky für den Herrn.

Aber für mich, und wohl auch für Desfred ist es nicht nur ein Geschäft, es entwickeln sich Gefühle. Aber nur nicht zeigen, nicht einmal mit einem Augenzwinkern. Unser Leben hängt davon ab. Alles was wir tun, hat im Sinne und im Dienste des Gottesstaates zu stehen.

So werden auch die regelmäßig stattfindenden „Errettung“ nur zum Wohle der armen Sünder vollzogen. Aber das ist nicht neu. Schon zu Zeiten der Inquisition wurden Hexen und Häretiker verbrannt, um sie so vor dem „ewigen Feuer“ zu retten. Aber das weiß heute fast niemand mehr, denn seit die Bücher verbrannt wurden und Schreiben und Lesen unter höchste Strafe gestellt wurde, gibt es Informationen ausschließlich aus dem staatlichen Fernsehen.

Aber unter Dienstboten wie Chauffeuren spricht oder flüstert sich so Manches herum. Auch dass ein ehemaliges Hotel zu „Jesebels Reich“ umfunktioniert und von Kommandanten und ausländischen Geschäftsleuten eifrig frequentiert wurde, war nicht allgemein bekannt. Aber wer sollte denn die Herrschaften zu den Orten ihres Vergnügens bringen, wenn nicht wir?

Leider kann ich die Geschichte nicht zu Ende erzählen. Ich bin nicht sicher, ob ich Desfred tatsächlich in die Freiheit verhelfen konnte. Ob unser (vermutetes) Kind zur Welt kommen durfte? Ob die Geschichte von Gilead je an die Öffentlichkeit kommt?

Ich hoffe.

 

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Covergestaltungen zu John Greens "Die erste Liebe [nach 19 vergeblichen Versuchen]"

 

Im Mittelpunkt des Covers die Umrisse eines noch "unfertigen" Menschen, eines fast noch kindlichen Körpers.

Der ganze Körper mit seinem Denken und Fühlen ist voll von "Katharinas", die sich alle gleichen, aber doch recht unterschiedlich sind. Alle Figuren sind in Bewegung, nicht festgelegt, sie überschreiten auch die Grenzen des noch nicht fertigen Körpers.

In der Mitte des Bauches – der kleine schwarze Punkt: Der Nabel, "das schwarze Loch" als Zeichen des Abgenabelt-Seins, das schwarze Loch als Ausdruck des physischen und psychischen Empfindens nach Liebesverlust. Dieser schwarze Punkt ist jetzt überschrieben und es dominiert das Rot der ersten Liebe.
Nur noch aus der Sicht und mit den Augen des sich selbst Betrachtenden und Erlebenden lässt sich das Vergangene "nach 19 vergeblichen Versuchen" entziffern. Bewusst habe ich pastellige Farben gewählt als Ausdruck des Entstehens.

 

 

Für die Gestaltung eines neuen Buchcovers für diesen Roman habe ich mich im 2. Versuch mit „First Love“ für einen englischen Titel entschieden, nicht nur weil sich diese werdende erste Liebe mitten in den USA abspielt, sondern weil dieser Ausdruck überall verstanden wird.

Als Hauptmotiv dieser Road-Fiction habe ich eine Bodenmarkierung auf einem Highway mit der Aufforderung "turn left" gewählt, der Abzweigungspfeil zeigt fiktiv auf ein Herz. Ich meine damit, dass ein Auf- und ein Umbruch zu einer neuen Beziehung erst dann möglich wird, wenn wie in diesem Roman der jugendliche Protagonist Colin Singleton seinem  Leben eine andere Richtung gibt. Voraussetzung dafür ist aber auch, dass er das immer wieder auftauchende Vorrangzeichen mit dem "Theorem über die Vorhersehbarkeit von Beziehungen" hinter sich lässt.

Angedeutet habe ich auch seine vergeblichen Beziehungsversuche mit den 19 Katherines mit der Aufschrift "Katherine I-XIX". Diese missglückten Beziehungsversuche mit römischen (!) Ordnungszahlen aufzuzählen, bedeutet, dass diese auch zu Leidensstationen wurden, zu einer Art persönlichem "Kreuzweg".

Einen Schubs für diesen Aufbruch hat Colin durch seinen Freund Hassan erhalten. Um aber nach 19 vergeblichen Versuchen zu  Lindsey, zu seiner ersten wirklichen Liebe zu finden, musste er erkennen, dass sein Theorem zwar Vergangenes erklären, aber niemals Zukünftiges voraussagen kann. Leben heißt "keep moving" und nicht nur stur vorwärts.

 

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Lesezeichen zu Ernest van der Kwasts "Die Eismacher"

 

1. Lesezeichen: S. 12, Seite aus einem Möbelprospekt

Mein erstes Lesezeichen ist eine herausgerissene Seite aus einem Möbelprospekt. Darauf sieht man ein schön eingerichtetes Badezimmer, dem es an nichts fehlt. Und doch fehlt etwas: das Persönliche, das zeigt, dass da eine Person wohnt. Dieses Lesezeichen passt gut zum Abschnitt, der mit folgenden Worten beginnt: Ich habe ein Zuhause, aber es fühlt sich nicht so an.

Giovannis Zuhause bleibt unpersönlich wie die Räume aus einem Prospekt oder auch die Zimmer der zahlreichen Hotels, in denen er auf seinen Reisen wohnt. Sehr berührend in diesem Abschnitt fand ich auch das Gedicht von Nurit Zarchi. Es erinnerte mich an ein Bilderbuch, das ich vor einer Weile gelesen hatte. Da stehen die Zeilen:

Ganz am Rand des Rands ist das Unbekannte.
Wenn ich springe, wo werde ich landen?
Vielleicht ist es hässlich? Oder kaputt?
Vielleicht neu?
Morgen werde ich randspringen.

(aus: Der Bär und das Wörterglitzern, A. de Lestrade & V. Docampo)

Giovanni wagte den Sprung ins Unbekannte. Dadurch hat sich der Abstand zwischen ihm und seiner Familie vergrössert. Zurückspringen kann er nicht.

 

2. Lesezeichen: S. 74, dünne Fäden verknüpft und doch irgendwie lose

Mein zweites Lesezeichen besteht aus dünnen Fäden, die an einem Ende zusammengeknüpft sind. Mit diesem Lesezeichen beziehe ich mich auf den letzten Abschnitt der Seite 74. Giovanni realisiert da ansatzweise, dass die Fäden des Netzes von Vergangenheit und Tradition ihn niemals loslassen werden. Dies überrascht den Protagonisten, weil er sich doch äusserlich immer weiter vom Eiscafé, also seiner Familie und ihrer Welt, entfernt hat.

Doch die Entfernung kann noch so gross sein, die Fäden reissen nicht.
Auf Seite 81 taucht das Bild der Fäden noch einmal auf: Hauchdünne Fäden zogen an mir – alles war mit allem verbunden … Dieses Wiederauftauchen von einem Element ist typisch für diesen Roman, in dem sich alles dreht (zirkuläre Struktur). Anfangs hatte ich Mühe mit dem Aufbau des Romans, die Zeitsprünge störten mich. Doch mit dem schön abgerundeten Schluss stimmte für mich das Gesamtbild. Es faszinierte mich schließlich sogar.

 

3. Lesezeichen: S. 352 ff, gewobenes Papier, rot und blau im Text

Das dritte Lesezeichen ist eine Kopie eines Teils der Seite 353. Darin eingewoben sind ein roter und ein blauer Papierstreifen. Rot für Giovanni, der die Sommer erleben durfte. Blau für Luca, der den Winter mit seinem Sohn erleben durfte:
"Die Winter waren am schwersten", sage ich.
"Die Winter waren am schönsten", sagt Luca.

In diesem Kapitel erzählen sich die beiden Brüder von ihren Erlebnissen mit "ihrem" Giovanni und füllen so gegenseitig die Lücken. Dieses Kapitel fand ich sehr berührend. Van der Kwast verwebt hier verschiedene Geschichtsfäden zu einem bunten Ganzen.

 

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Namensanalyse zu NoViolet Bulawayos "Wir brauchen neue Namen"

Mother of Bones

Mother of Bones ist die Großmutter der Hauptfigur Darling, der 10-Jährigen die in einem Slum in Simbabwe aufwächst und dort mit ihren Freunden den Alltag bestreitet: Die Kinder erfinden Spiele, stehlen Guaven, können nicht unterrichtet werden, da die Lehrer abwandern, lernen rohe Gewalt kennen -
sie müssen sich selbst erklären, wie das Baby in den Bauch der Freundin gekommen ist, finden eine Tote und sehen einer Meute zu, die ein Haus verwüstet.

Bei all diesen Unternehmungen kommt der Großmutter keine Rolle zu. Nur im 2.Kapitel erzählt uns die Autorin über den Ausflug des Mädchens mit Mother of Bones in die Kirche.

 


Mother of Bones befiehlt ihrer Enkeltochter sich zu waschen und das „gute, gelbe“ Kleid anzuziehen, um für den Kirchenbesuch auf einem Berg angemessen angezogen zu sein. Der alten Frau mit den tiefen Furchen im Gesicht sind Äußerlichkeiten wichtig: Sie trägt kreischend bunte Perlen, mahnt ihre Enkeltochter wie eine Frau zu gehen und sich nicht mit ihren Freunden, den „dreckigen Schwachköpfen“ abzugeben. Ihr Geld, das nichts mehr wert ist, tätschelt sie „wie ein Baby, das sie in den Schlaf wiegen will“. Es fällt ihr schwer zu begreifen, dass sie um ihr Erspartes nichts mehr kaufen kann. Ein Foto ihres Sohnes, der die Universität geschafft hat, hütet sie, ärgert sich aber, dass sie selbst darauf nicht zu sehen ist. Auf dem Weg zur Kirche grüßt sie oder winkt den Leuten wenigstens zu, sie beginnt ein Kirchenlied zu singen – sie will bemerkt und gesehen werden, denn: Sie geht in die Kirche, sie ist eine gute Christin.

Auf Knochenjagd, Mother of Bones? wird sie von einem Jungen gefragt, der Plakate für den „Wandel“ in Simbabwe austrägt. Ihre Anwort lautet: Wissen die Dummköpfe denn nicht, dass von Wagemut nur Knochen bleiben? Morgen wirst du mich fragen, was ich sage, wenn es wirklich Knochen gibt. Schau nicht hin, rät sie auch ihrer Enkeltochter.
Mother of Bones hat Angst vor dem Mut der Leute, die gegen die Unterdrückung kämpfen, fürchtet sich vor der Gewalt, mit der die Machthaber dann gegen das Volk vorgehen. Sie hat diese bittere Erfahrung vermutlich immer wieder gemacht.

Mother of Bones – Knochenmutter – Hüterin der Knochen.
Dieser Name erzählt, wie so viele andere Namen in diesem Buch, eine Geschichte, bildlich und bedeutsam. Wieviele Tote hat die alte Frau in ihrem Leben schon gesehen? Unter der Herrschaft von Robert Mugabe musste die Bevölkerung die Zerstörung des Landes mitansehen. Auch der Ehemann von Mother of Bones, Darlings Großvater, wurde im Krieg getötet. Niemand weiß, wo. Er konnte nicht begraben werden; die alte Frau weiß nicht, wo seine Knochen liegen.

Vielleicht hat sie sich deshalb dem christlichen Glauben zugewandt, weil er ihr hilft, die Armut und die Aussichtslosigkeit zu ertragen. Auch wenn das bedeutet, in großer Hitze auf einen Berg zu steigen, und die sehr merk- und fragwürdigen Gottesdienste inklusive Teufelsaustreibungen mitzufeiern. Dennoch gibt ihr Glaube Mother of Bones Kraft in einer brutalen Umgebung zu überleben.

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Buchempfehlung für Preisverleihung zu NoViolet Bulawayos "Wir brauchen neue Namen"

Unmittelbar werde ich als Leserin in ein mir völlig fremdes Land eingeladen. Die Sprachbilder lassen Stück für Stück ein Bild entstehen von der armseligen Umgebung, in der Darling mit ihren Freunden aufwächst. Farben Geräusche, Gerüche und der Geschmack von Guaven mischen sich zu einem bunten Bild, das neugierig macht. Ich staune über so viel Lebenslust, Kreativität und Hoffnung an einem hässlichen Ort, den die Autorin ironisch „Paradise“ nennt. Begeistert hat mich der Humor, mit dem es der Autorin meisterhaft gelingt, die Schönheit und den Reichtum dieses armseligen Ortes aufscheinen zu lassen, an dem es bei aller Armut Werte gibt, die bei uns immer mehr zu verschwinden drohen: Treue, Freundschaft, Zuversicht, Hoffnung, Lebenswille. Selbst korrupten fundamentalistischen Religionsvertretern gelingt es nicht, den Lebensmut dieser Jugendlichen zu brechen.

 


Den ersten Teil des Buches habe ich atemlos gelesen: beschämt, wie wenig ich weiß über diesen fernen Kontinent und neugierig, mehr zu erfahren – ähnlich ging es mir nach der Lektüre von Chimamanda Ngozi Adichie, „Half of a yellow sun“, das zwar in einem anderen Milieu und in Nigeria spielt, das mich aber ebenso mit meiner Unwissenheit konfrontierte und neugierig machte. Im zweiten Teil des Buches folgte ich der Protagonistin nach Amerika in eine Welt, welche Darling fremd, mir dagegen vertrauter ist, insbesondere da ich als Jugendliche selbst mehrere Jahre in Amerika gelebt habe. Der Schnee wird zum Symbol für die Kälte und Unwirtlichkeit des fremden Landes, indem nichts Gültigkeit zu haben scheint, was bislang vertraut und heimatlich war. Im weiteren Verlauf der Schilderung des amerikanischen Lebens und Darlings verzweifelten Ringens, sich einerseits diesen neuen Ort vertraut zu machen und andererseits erbittert um den Erhalt ihrer Identität kämpfen zu müssen, verliere ich vorübergehend den Kontakt zu Darling. Sie entgleitet mir. Während ich im ersten Teil des Buches keine Mühe habe der Geschichte zu folgen und einen roten Faden zu erkennen, fällt mir genau das im zweiten Teil zunehmend schwer. Ich verliere den Überblick, finde die Schilderungen teilweise quälend und abstoßend, verirre mich zwischen den Geschichten und Schilderungen. Mein Widerstand wächst und die Bereitschaft mich weiter einzulassen nimmt ab, und doch lässt mich die Geschichte nicht los. Ich fühle mich erinnert an mein eigenes, wenn auch wesentlich weniger dramatisches, Ringen darum, heimisch zu werden in diesem seltsamen Land, ohne mich dabei zu verraten. Durch die Art der Schilderung scheint die Autorin genau den quälenden Prozess der Integration abbilden zu wollen, den sie beschreibt, verwirrend, chaotisch, abstoßend, verloren und rätselhaft. Das Ende des Buches lässt mich mit der Konfrontation zurück, wie hoch der Preis dafür ist, sich in zwei so unterschiedlichen Ländern heimisch und zugehörig fühlen zu müssen und zugleich mit der Herausforderung an uns Europäer_innen, uns das Fremde vertraut zu machen und dadurch unsere eigene Identität und unseren Horizont zu erweitern. Unter dem Aspekt: Wir haben sehr viel zu lernen über das Land Simbabwe, über den schmerzlichen Prozess der Unabhängigkeit, über unsere westliche Verstrickung in das Leid der Menschen dort und von den Menschen, die dort leben, die sich dennoch vieles bewahrt haben, was wir drohen zu verlieren, ist das Buch „Wir brauchen andere Namen“ unbedingt lesenswert und preiswürdig!

 

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Literarische Verfahren, das Leben "nachzuerzählen" - ein Vergleich mit Felicitas Hoppes "Verbrecher und Versager"

Von der Suche nach dem verlorenen Paradies

1959 erschien Hilde Domins erster Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“. „Walter Jens schrieb damals, mit der Rose sei die deutsche Sprache gemeint, die der Halt gewesen sei in den Jahren des Exils. Was mich (Hilde Domin) sofort überzeugte. Ich habe mir daher vorgenommen, diesen Lebenslauf ganz von der Sprache her darzustellen.“ [1]

In eben diesem „Lebenslauf“, er trägt den Titel „Leben als Sprachodyssee“, erzählt Hilde Domin als 67-jährige ihr Leben, das sie nach einer glücklichen Kindheit in Köln ab 1932 für 22 Jahre in verschiedenen Sprachräumen im Exil verleben musste. Erst 1954 kehrte sie zurück nach Deutschland und genau 25 Jahre später verfasste sie diesen autobiographischen Text.

 


Domin beschreibt ihr „Leben als Sprachodyssee“, als unfreiwillige Reise durch und mit den Sprachen Italienisch, Französisch, Latein, Englisch und Spanisch. Bevor sie und ihr Mann nach England flüchteten, machten sie sich mit Hilfe von Gedichten mit der Sprache und dem Land vertraut. Im Land selbst erlebten sie, dass es zusätzlich viel interkultureller Kompetenz bedurfte, um tatsächlich „anzukommen“. Später ging die Odyssee weiter bis zum Inselstaat Santo Domingo. Hier wurden Vorträge ins Spanische übersetzt und Gedichte z.B. von Pablo Neruda ins Deutsche. Das eine
geschah, um finanziell, das andere um geistig zu überleben.

Auch wenn Hilde Domin sich später den Namen der Exilinsel als Autorin zu Eigen gemacht hat, empfand sie sich außerhalb des deutschen Sprachraums als zutiefst heimatlos. Ein Thema, dass ihr lyrisches Werk prägt und bis heute aktuell macht.

Zurück zur Rose!
„A rose is a rose is a rose is a rose“, der berühmte Satz von Gertrude Stein drückte für Stein aus, „dass der Name einer Sache deren Bild und die damit verbundenen Gefühle verkörpert.“ [2] Das heißt Literatur ist mehr als nur eine Aneinanderreihung von Begriffen und erzählten Begebenheiten. Die Portraits von Felicitas Hoppe, der Lebenslauf und die Lyrik von Hilde Domin bekommen in der Interaktion zwischen Autor und Leser ein Eigenleben. Gefühle und Bilder entstehen und werden zu Charakteren und Persönlichkeiten, die sowohl vom Autor als auch von den Lesern eigenmächtig gedeutet werden. Und nicht nur das, es entstehen Deutungen ganzer gesellschaftlicher
Prozesse und geschichtlicher Zusammenhänge.

Felicitas Hoppes Texte aber erzählen mehr von den Ungewissheiten als von den Fakten und genau das ist auch ihr Anliegen. Dadurch, dass sie jeweils einen Erzähler wählt, der es gar nicht so genau wissen kann, wird dieser Eindruck extrem gesteigert. Viele Biographien werden augenscheinlich aus der allwissenden Perspektive erzählt, aber Hoppe entlarvt diese als ebenso ver-rückend wie ihre fragmentarisch-assoziative Erzählweise, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. [3]

Hilde Domin erzählt ihr Leben selbst, sie muss es also wissen. Als Exilantin und Heimkehrerin, als Jüdin, die vor den Nazis fliehen musste und zurückkam, als die Schreckensherrschaft vorbei war, hatte sie ein Anliegen. Rückblickend gibt sie ihrem Erleben eine Deutung, und misst der Sprache dabei eine besondere Rolle zu.

Aus ihrer Sicht handelte es sich hauptsächlich um sprachliche Ver-rückungen, die es zu verkraften galt. Ihr persönliches Schicksal, der Verzicht auf Kinder, die Entfremdung von ihrem Mann im Exil, die politischen Kompromisse auf Santo Domingo werden nicht erwähnt. Domins reiches inneres Gefühlsleben findet sich in ihrer Lyrik wieder, allerdings mit Worten, die die Wahrheit in einer Weise ver-rücken. Domins Stil der Reduktion lässt ihre Gedichte allgemeingültig und zeitlos werden.

Lyrik,
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
. [4]

Im Gegensatz zu ihrer Lyrik füllt der Text „Leben als Sprachodyssee“ ein ursprünglich lyrisches Motiv mit ausgewählten autobiographischen Fakten. Durch diese Deutung schützt sie sich vor emotionalen Verletzungen und Angriffen. Außerdem gibt sie ihrem Schicksal einen Sinn und eine Ästhetik. Auch Domin fragmentarisiert in diesem Text, allerdings mit der Absicht einen roten Faden zu definieren, ganz anders als Hoppe in ihren Portraits.

Als Kind der Generation Kriegsenkel [5] habe ich in meiner Eltern- und Großelterngeneration häufig die völlige Sprachlosigkeit erlebt, stattdessen diffuse Ängste und Schuldgefühle, die sich bis in meine Generation fortsetzen. Von der Familiengeschichte, wie z.B. Flucht und Vertreibung, erfährt das Kind, wenn überhaupt, fragmentarisch und erspürt die Botschaft der Vorfahren eher auf der Gefühlsebene.
Wenn später der Wunsch nach einem besseren Verständnis der Geschichte erwacht, muss die Sprache erst gefunden werden, die Fakten einerseits, die richtigen Worte und ein angemessener Ton andererseits. Das Wissen um die objektive Unmöglichkeit dieses Unterfangens, verringert nicht die subjektive Dringlichkeit. Die beiden Autorinnen Felicitas Hoppe und Hilde Domin gehen als Autorinnen sehr unterschiedliche Wege. Während Hoppe mit ihrem Material wie eine Gärtnerin schöpferisch arbeitet, betrachtet Domin die Flora als Metapher für die Welt, staunend und bittend entdeckt sie im Wachsen, Welken und Vergehen einen Sinn und ein „Dennoch“:

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.
[6]

Insofern trifft der Satz von Felcitas Hoppe: „Einzig und allein das Wissen um die Unmöglichkeit, das Ziel unserer Wünsche zu erreichen, ist der Motor des Erzählens, nicht umgekehrt.“[7] auch auf Hilde Domins Antrieb und Selbstverständnis als Autorin zu. Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die unumgänglich ist, um gute und „wahre“ Geschichten zu schreiben.

[1] Hilde Domin, Aber die Hoffnung, Autobiographisches aus und über Deutschland, Fischer TB, Frankfurt 1993, Leben als Sprachodyssee, 1979.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gertrude_Stein.
[3] Felicitas Hoppe, Verbrecher und Versager, Fischer TB, Frankfurt 2006, 73f.
[4] Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Fischer, Frankfurt 1987, S. 227.
[5] Sabine Bode, Die Erben der vergessenen Generation, Klett-Cotta, Stuttgart 2009.
[6] Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Fischer, Frankfurt 1987, Bitte S. 117.
[7] Fernkurs für Literatur IV, S. 33.